Als ich an jenem 11. September mit Pflastersteinen auf Polizisten warf, hätte ich es nie für möglich gehalten, dass ich einmal selbst Polizist werde.
Es war der 11. September 1973. Ich weiß nicht mehr, wie ich vom Putsch in Chile und der Ermordung Präsident Allendes erfahren hatte. Ist es nicht seltsam? Ich kann mich heute nicht mehr erinnern, wie es in einer Zeit ohne Internet und Handy überhaupt möglich war, dass sich Informationen wie ein Lauffeuer verbreiteten. Aber ich hatte irgendwie davon erfahren, auch von der Erklärung Henry Kissingers, der bereits wenige Stunden nach Allendes Tod gutgelaunt einräumte, dass die USA immer bereitstünden, befreundeten Völkern zu helfen.
Ich nahm sofort ein Taxi. Es gab keine Absprachen. Ich kann mich nicht erinnern, dass herumtelefoniert worden wäre, um eine spontane Kundgebung zu organisieren. Es war einfach klar: Ich musste sofort zur Botschaft der USA. Ich war damals Anfang zwanzig, ein verträumter, zur Schwermut neigender Philosophiestudent. Ich hatte wenig Geld. Ich glaube, ich war der einzige Wiener Student, der damals mit dem Taxi zu einer Demo fuhr. Aber es hätte mir an diesem Tag mit der Straßenbahn zu lange gedauert.
Das war die Wut.
Vielleicht brauchten wir damals keine Handys, weil wir auch ohne technische Geräte mitbekamen, was in der Luft lag. Die Wut.
Als ich in der Boltzmanngasse ankam, hatten sich bereits einige Hundert Menschen vor der Botschaft versammelt. Es wurden minütlich mehr. Ich sah mich plötzlich da stehen, die geballte Faust rhythmisch hochstoßen und mit den anderen schreien: »Allende, Allende, dein Tod ist nicht das Ende!«
In Wahrheit war es nicht die geballte Faust. Ich hatte ein Buch dabei, ein Exemplar der »Dialektik der Aufklärung« von Horkheimer/Adorno, das ich schon den ganzen Tag mit mir trug. Also stieß ich dieses Buch in die Luft, als wir »Allende, Allende …« zu rufen begannen. Am nächsten Tag war ein Foto im Wiener KURIER, auf dem ich zu sehen war, wie ich das Buch in die Höhe streckte und schrie. Darunter stand: »Studenten demonstrierten mit Mao-Bibel vor der US-Botschaft«.
An der Ecke Boltzmanngasse/Strudlhofgasse befand sich eine Baustelle. Ich glaube, dass wir die Steine von dort holten. Zugleich fuhren immer mehr Polizeiautos vor. Da sah ich Werner, einen Freund aus dem Philosophie-Seminar. Dass ich nicht verhaftet oder verletzt wurde, habe ich ihm zu verdanken. Er hatte Angst. Ich hatte den Eindruck, dass er hyperventilierte. Er keuchte, mehr noch: Er hechelte. Er zog an meiner Jacke, zerrte mich weg. Ich dachte, dass ich mich um ihn kümmern müsse.
Werner litt, wie ich wusste, an einer Herzinsuffizienz. Er war überzeugt davon, dass es der Kapitalismus sei, der ihn krank machte, weshalb er jegliche Behandlung durch die bürgerliche Schulmedizin verweigerte. Einen marxistischen Herzspezialisten, mit dem er eine Therapie hätte diskutieren können, die vom Kapitalismus als Krankheitsursache ausging, gab es in Wien nicht. Keine zwei Wochen nach der Kundgebung vor der amerikanischen Botschaft wäre Werner, übrigens während eines Wilhelm-Reich-Arbeitskreises zur »Funktion des Orgasmus«, beinahe an seiner Krankheit gestorben.
Ich selbst erfreute mich damals bester Gesundheit. Nur ein einziges Mal – ich hatte mir beim Fußballspiel Trotzkisten gegen Spontis das Bein gebrochen – war ich in die Verlegenheit gekommen, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ich erwähne das deshalb, weil mir Werners Standpunkt nicht nur verrückt, sondern insgeheim auch plausibel erschienen war. Hätte ich Werners Krankheit gehabt – gut möglich, dass ich damals gestorben und ein unbekanntes Opfer der Auseinandersetzung der Weltsysteme geworden wäre.
So herrisch sich die westliche Welt in Chile gezeigt hatte, so hilflos war sie damals gegenüber den arabischen Ländern. 1973 gab es nicht nur den heute vergessenen 11. September, es war auch das Jahr der sogenannten »Energiekrise«. Die Scheichs, so stand es in den Zeitungen, »drehten den Ölhahn zu«. Das war es, worüber sich die ganze Republik empörte: Primitive Wüstenhäuptlinge, die zufällig auf den größten Erdölreserven der Welt saßen, zwangen die demokratischen Hochkulturen zu Verzichtleistungen. Der österreichische Kanzler empfahl allen Männern, sich nicht mehr elektrisch, sondern nass zu rasieren, um Energie zu sparen. Es wurde ein »autofreier Tag« eingeführt, um den Benzinverbrauch zu drosseln, und in den Schulen die »Energieferien«, um Heizkosten zu sparen.
Damals, als in den Zeitungen ständig von der »Energiekrise« die Rede war, hatte ich eine ungeheizte Wohnung und litt kraftlos an einer Sinnkrise. Beides hatte allerdings nichts mit der Energiekrise zu tun. Mein Vater hatte seine monatlichen Zahlungen eingestellt. Er hielt mein Philosophiestudium für blanken Müßiggang – hart an der Grenze zur Kriminalität. ,
Er legte den KURIER auf den Tisch.
Mein Sohn, ein randalierender Maoist!
Ich bin kein Maoist.
Bist du das? Auf diesem Foto?
Ja.
Er nickte.
Ich bekam einen Fieberschub von Hass und Verachtung. Dieses Nicken meines Vaters erschien mir als der Inbegriff von Idiotie, Selbstgerechtigkeit und emotionaler Verrottung. Er wusste nicht, was Maoismus war. Er konnte nicht wissen, ob ich tatsächlich dem Maoismus anhing. Er konnte also auch nicht wissen, dass ich diese Fraktion ablehnte und nichts mit ihr zu tun hatte. Aber die Art, wie er nur durch ein Nicken klarmachte, dass er es gar nicht wissen wollte, dass er nicht bereit und nicht im Geringsten interessiert war, darüber zu reden und etwas von mir zu erfahren, die Härte, mit der er in jedem Fall sein Urteil sprach, ohne sich um Aufklärung bemüht zu haben, machte mich sprachlos. Wie er lieber seinen Sohn verurteilte, als einen Satz aus einer Boulevard-Zeitung zu hinterfragen!
Diese Karikatur einer archaischen Schicksalstragödie, wie er mit steinernem Gesicht seinen Sohn verstieß! Ich wollte ihm so viel sagen, dass ich kein Wort herausbrachte. Den vom CIA organisierten Putsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten eines souveränen Staates nahm er als »Weltpolitik« hin, aber dass sein Sohn an einer Kundgebung gegen diesen Putsch teilgenommen hatte, zur Verteidigung der Demokratie, in einem Land mit Demonstrationsfreiheit, entsetzte diesen braven Staatsbürger, der nun meinte, gebieterisch einschreiten zu müssen.
Ich sagte kein Wort. Er sagte noch einige Sätze, im Grunde aber nur dies: Kein Geld mehr, bis ich »vernünftig« geworden sei.
Ich stand auf und ging. Ich wünschte ihm den Tod. Heute bin ich sehr froh, dass ich auch diesen Satz nicht ausgesprochen habe.
Er hatte damals schon Krebs, aber das wusste ich noch nicht.
Ich saß also in einer ungeheizten Wohnung und hatte die Sinnkrise. Ich fragte mich, ob mir mein Studium so viel bedeutete, dass ich auch bereit war, es durch Jobs selbst zu finanzieren. Philosophie! Und was dann? Ich war von den Bedenken meines Vaters nun selbst schon angekränkelt.
Ich ging in Vorlesungen und fragte mich danach bei Durchsicht meiner Mitschriften, ob ich beim Mitschreiben oder der Professor beim Vortragen deliriert hatte. Ich machte noch zwei oder drei Prüfungen, die lediglich Triumphorgien der Professoren waren, die, nur wenige Jahre zuvor mit Tomaten beworfen, sich nun bei der nächsten Studentengeneration ungestraft dafür rächen konnten: »Brav gelernt, Herr Kollege, aber ich kann Ihnen nur ein >genügend< geben, weil: Sehr gut ist der liebe Gott, gut bin ich, und dann kommt lange nichts.«
Im März 1974 starb Werner. Nein, es war nicht das Herz. Er hatte einen Autounfall. Ich ging zum Begräbnis und traf dort ein kleines Fähnlein von Ehemaligen: ehemalige Studentenführer, Kommunegründer, Revolutionsdichter, Parteiengründer – fast jeder, mit einer halbvollendeteten philosophischen Doktorarbeit im fünfzehnten bis zwanzigsten Semester, ein Veteran des Übergangs von der Theorie zur Praxis. In der Aufbahrungshalle hielt Werners Doktorvater, Professor Benedikt, eine Rede, die mein Leben – nicht veränderte, aber immerhin meinen stummen Lebensfilm zu diesem Zeitpunkt vernünftig untertitelte. »Man kann«, sagte er, »ein Leben, zumal ein so kurzes, nicht phänomenologisch analysieren. Es ist eine Erscheinung, ohne dass ein Sinn feststellbar wäre in seinen Zusammenhängen mit anderen Erscheinungen und am Ende dem Tod!«
Es kam zu Unruhe. Manche riefen: »Lauter!« Die Akustik in der Aufbahrungshalle war sehr schlecht. Und Professor Benedikt senkte den Kopf ganz nahe an das Mikrophon und sagte — in übersteuerter Überlautstärke, als spräche ein Gott mit Donnergewalt; »Im Einzelnen waltet der Zufall, im Ganzen allein der Sinn …« — Er machte eine Pause und fügte hinzu: »… oder, wie in bestimmten historischen Epochen, auch hier die Sinnlosigkeit!«
Ich ging. Der Kiesweg des Zentralfriedhofs. Die Alleen der Steine. Ich wusste, dass eine Epoche zu Ende war: die der weltgeschichtsgesättigten Psychosomatiker. Damit war auch mein Philosophiestudium beendet.
Was tun? In Deutschland waren einige Achtundsechziger zu Kaufhausbrandstiftern geworden – und ich begann in Wien in einem Kaufhaus zu arbeiten! Auch das war eine Folge von 1968: der Anstieg der Ladendiebstähle in solchem Ausmaß, dass Kaufhausdetektive angestellt werden mussten. Ich hatte keine Qualifikationen außer einem abgebrochenen Philosophiestudium mit einer unvollendeten Seminararbeit über die »Dialektik der Aufklärung«, und Kaufhausdetektiv war unter den Jobs, die man mir anbot, der einzige, den ich mir körperlich zumuten wollte. Ich weiß nicht, was ich bald als trostloser empfand: die Auseinandersetzungen mit den kleinen Ladendieben, die ich ertappen und abliefern musste, um meinen Job zu behalten, oder die Gespräche mit den Verkäuferinnen, wenn ich aus Mitleid wieder wegschauen wollte. Elend und Borniertheit hielten sich dabei in einer so perfekten Weise die Waage, dass ich den Eindruck hatte, dass es doch eine geheime Weltordnung geben müsse.
Als ich kündigte, hatte ich erstmals eine Qualifikation: ein Jahr Berufserfahrung als Detektiv. Das genügte damals, um eine Anstellung bei der Polizei zu bekommen, im Innendienst, Falschgelddezernat, wo ich mit einer Automatik, der ich mich lethargisch ergab, durch regelmäßige Vorrückungen eine erstaunliche Karriere machte – die mir übrigens in meinem sozialen Leben überraschenderweise nicht schaden sollte: Als ich Polizist wurde, war ich sicher, nun von meinen alten Freunden verachtet und gemieden zu werden. Tatsächlich aber wurde ich von den Helden der Studentenkämpfe bereits beim zehnjährigen Jubiläum von 1968 als Beispiel dafür gefeiert, dass der Marsch durch die Institutionen in Österreich besonders geglückt sei.
Das ging beim fünfzehn- und zwanzigjährigen Jubiläum so weiter, die Geschichte wurde fast schon zu einem Heldenepos. Was sie alle nicht wissen konnten, war, dass ich mich bewusst um einen Dienstposten im Falschgelddezernat beworben hatte, weil ich einen Arbeitsplatz wollte, der mich möglichst nicht mehr behelligte. Bekanntlich gab es in Österreich kein Falschgeld. Wer die Mittel und Möglichkeiten hatte, gut gemachte Blüten herzustellen, verschwendete seine Zeit nicht mit Schilling, sondern produzierte gleich D-Mark.
Ausschlaggebend dafür, dass ich an einen Schreibtisch im Staatsdienst wechselte, war also keineswegs die Illusion, dass ich von dort aus irgendetwas verändern könnte: die Welt, die Gesellschaft oder gar mich selbst. Es war einfach ein bezahlter Rückzug.
Aufklärung war der große Anspruch der Zeit, in der ich erwachsen wurde. Als ich studierte, ging es um nichts anderes: Man musste der Mann sein, der in jedem Fall am Ende Bescheid wusste. Ich sammelte und ordnete Fakten, untersuchte Zusammenhänge, hinterfragte Motive, ging allen Informationen nach, entwickelte Theorien, suchte nach Schuldigen, glaubte, dass ich etwas zu verstehen begann, kam zu einer Lösung. Das nannte man damals Bildung. Die Bildung eines Weltbilds. Wer die Welt von links betrachtete, sah bald nur noch Täter und Opfer, Zeugen und gesetzlose Rebellen. Aber nie hätte ich gedacht, dass ich einmal Polizist werden würde. Hätte ich die Erfahrung gemacht, dass man Fälle wirklich aufklären kann – ich wäre mit Leidenschaft Detektiv geworden, oder zumindest Philosophie-Professor.
Ich wollte das nicht, aber ich wurde es: abgebrüht. Manchmal, ganz selten, erlebte ich noch Momente der Leidenschaft, in bestimmten Situationen nippte ich daran wie an einem Glas Champagner, wissend, dass das nicht der Alltag war.
Ich wurde auf Empfehlung meines Vorgesetzten Mitglied in seinem Tennis-Club, lernte brav das Spiel und war auch hier ohne jeden Ehrgeiz einigermaßen • erfolgreich: Ich bekam den Spitznamen »Die Wand«. Ich machte keine Punkte, ich lebte von den Fehlern der Gegner. Ich gewann immer wieder ein Match, bis ein anderer stärker war als ich, einer, der wirklich Punkte machen konnte. Ich lernte im Club eine Frau kennen, die mich dazu verführte, die Leidenschaft neu zu lernen. Ich lernte das Spiel. Ich war »Die Wand«. Doch dann konnte ein anderer bei ihr wirklich punkten. Was von dieser Affäre blieb, war ein Kind. Ein Sohn.
Ich konnte ihm nicht widersprechen, als er mit achtzehn zu mir sagte, er finde Bullen scheiße. Ich war selbst schuld. Als ich nach seiner Geburt mit seiner Mutter darüber diskutierte, wie er heißen sollte, wollte ich unbedingt, dass er den Namen eines Revolutionärs und Freiheitskämpfers bekam. Da fiel es mir erst auf: dass alle Revolutionäre völlig unattraktive Namen hatten: Karl, Friedrich, Ferdinand, Leo – niemand hätte da an einen Freiheitskämpfer gedacht. Oder Vladimir, Fidel, Che – diese Namen hätten dem Kind nur Gespött eingebracht. Bei einer Tochter hätten wir es einfacher gehabt; Rosa oder Olga. Oder Alice. Aber es war leider ein Sohn.
Schließlich machte ich mit verzweifelter Ironie einen allerletzten Vorschlag; Zorro.
Wie kommst du auf Zorro?
Der letzte Freiheitskämpfer, der mir noch einfällt.
Freiheitskämpfer? Sagte sie. Im Grunde war Zorro ein Robin Hood.
Also Robin?
Robin.
Es wäre übertrieben zu behaupten, dass ich meine Stelle bei der Polizei aufgab, um Robins Liebe zurückzugewinnen.
Es war Mitte Dezember 2001, unmittelbar vor der Einführung des Euro. Ich traf Robin zu einem Abendessen.
Wie geht es dir?
Geht so.
Und deiner Mutter?
Geht so.
Ich hasse es, wenn jemand so beharrlich wortkarg ist, dass ich mich dazu gezwungen fühle, ununterbrochen zu reden, nur damit jene Peinlichkeit nicht aufkommt – die ich dann durch mein Reden erst recht produziere. Wie er aussah! Eigentlich hätte ich ihn wegen Verstoßes gegen das Vermummungsverbot festnehmen müssen.
Kannst du bitte wenigstens im Restaurant diese Kapuze runternehmen?
Wen stört’s?
Mich.
Er nickte.
Du bist kein Amt, sagte ich. Ich habe keine Eingabe gemacht, die du jetzt lange prüfen musst.
Ist ja gut, sagte er und strich die Kapuze zurück. Er saß mit gesenktem Kopf da und sah mich an, als würde er noch immer unter seiner Kapuze hervorschauen. So trotzig von unten herauf hatte auch ich meinen Vater angeschaut, damals, als er mir bei einem Abendessen eröffnete, dass er mein Studium nicht länger finanzieren werde. Da war ich älter gewesen als Robin heute. Aber ich hatte auch nichts zu sagen gewusst.
Ich sah Robin an, versuchte ein verständnisvolles, komplizenhaftes Lächeln. Wie er schaute! Es machte mich aggressiv. Ich ertrug es nicht. Sein muffiger Blick. Er war kein Rebell. Er war ein blöder Pubertierender, aber aus dem Alter sollte er eigentlich heraus sein.
Mein Sohn war die Wand, von der mein Missvergnügen zu mir zurückprallte.
Weißt du, sagte ich, nur um irgendetwas zu sagen: Es gibt Dinge, die kann man nicht machen, wenn man ihre Bedeutung kennt. Ein freier Mann darf zum Beispiel keinen Zopf tragen. Es gibt junge Menschen, die tragen ein Zöpfchen und halten sich für Rebellen. Aber der Zopf war das Symbol für den Adel. Deshalb nennt man ja alles Rückständige »verzopft«. Es war eine der großen Leistungen der bürgerlichen Gesellschaft, dass sie die alten Zöpfe abgeschnitten hat, buchstäblich und metaphorisch, und wer also heute einen Zopf –
Ich habe keinen Zopf, sagte er.
Ja. Ich sage nur. Oder Nasenringe. Das geht einfach nicht. Junge Menschen halten das für ein Symbol der Aufsässigkeit, aber es ist ein Symbol der Unterwerfung, es zeigt; Ich bin bereit, mich an der Nase herumführen zu lassen.
Siehst du bei mir ein Piercing? sagte Robin. Nicht in der Nase, und auch nicht –
Er streckte die Zunge heraus.
Ist ja gut, sagte ich. Du verstehst, was ich meine. Wer also kein Bär ist, sollte keinen Nasenring tragen. Was ich sagen wollte –
Der Kellner brachte die Speisekarten.
Was ich sagen wollte, ist: Wer nicht beim Ku-Klux- Klan ist, trägt keine Kapuze.
Wir öffneten die Speisekarten. Ich hatte mich nach einer halben Minute entschieden, aber Robin erweckte den Eindruck, als wollte er die Speisekarte auswendig lernen, inklusive der Jahrgänge der Flaschenweine.
Nach zehn Minuten fragte ich ihn; Weißt du schon?
Was?
Was du willst.
Weißt du, was du willst?
Ja, sagte ich.
Und bekommst du, was du willst?
Ich schaute ihn an. Da kam der Kellner. Ich bestellte. Robin sagte, er nehme das Gleiche.
Und zu trinken, fragte ich. Apfelsaft?
Du hast doch eine Flasche Wein bestellt.
Ja.
Ist gut.
Dazu eine große Flasche Wasser, sagte ich zum Kellner.
Ich nahm mir immer vor, in Restaurants vor dem Essen kein Brot zu essen, und konnte doch nie widerstehen. Robin versuchte, oder tat so, als versuchte er es, mit der Gabel eine Olive aufzuspießen, aber ständig sprang sie weg und rollte über den Teller, er stach zu, und die Olive sprang weg, ich mampfte Brot, das ich in Olivenöl tunkte, und sah mit wachsender Irritation zu, wie Robin immer wieder mit der Gabel auf die Olive einstach, die jedesmal unter der Gabel wegrollte.
Was machst du da? fragte ich.
Ich mache sie müde.
Lass den Unsinn, sagte ich. Wir müssen reden.
Worüber? Über das Taschengeld?
Er öffnete die Speisekarte und studierte sie wieder.
Ich habe dir etwas mitgebracht, sagte ich. Hier! Das Startpaket.
Ich legte es vor ihn hin. Eine in Plastik eingeschweißte Sammlung aller Euro- und Cent-Münzen, im Gegenwert von loo Schilling, in Summe also sieben Euro. Diese »Startpakete« wurden damals von den Banken ausgegeben, damit man sich schon vor dem 1. Januar mit diesen Münzen vertraut machen konnte.
Danke, sagte Robin. Weißt du, was Oma gesagt hat?
Nein. Was hat sie gesagt?
Dass du jetzt deinen Job verlieren wirst.
Warum?
Es steht ja jeden Tag in der Zeitung. Noch nie in der Geschichte gab es so fälschungssicheres Geld wie den Euro. Es wird jetzt lange kein Falschgeld mehr geben.
Warum? Es ist für Geldfälscher einfach eine neue Herausforderung.
Aber wozu soll man sich die Mühe machen, Geld zu fälschen, wenn es genügt, das Geld falsch umzurechnen?
Es gibt ein Gesetz, das das verbietet.
Und bist du dafür zuständig? Man wird Leute wie dich nicht mehr brauchen. Oma hat gesagt, man wird uns ganz offiziell betrügen, wir werden nicht auf Falschgeld, sondern auf das neue Geld hereinfallen. Wie bei der Währungsreform 1947.
Was weißt du von der Währungsreform 1947?
Was Oma erzählt hat.
Ich kannte mich jetzt überhaupt nicht mehr aus. Robin rebellierte gegen mich — aber mit Geschichten meiner Mutter!
Der Kellner brachte die Vorspeisensalate und wollte die Speisekarten mitnehmen.
Robin hielt die seine fest und sagte: Die brauche ich noch!
Was macht das Studium? fragte ich.
Geht so.
Das heißt?
Es war seltsam. Mein Sohn studierte Philosophie. Ich hätte das verstehen sollen. Oder gar Genugtuung empfinden. Aber ich verstand es nicht. Wir aßen den Salat.
Der Kellner servierte die Teller ab. Wieder wollte er die Speisekarte mitnehmen, aber Robin legte die Hand darauf; Nein, die brauche ich noch.
Also, sagte ich. Dein Studium! Welche Vorlesungen besuchst du?
Einführung in die Philosophie Eins. Einführung in Religionsphilosophie.
Religionsphilosophie? Ist das Pflicht?
Ja. Und Einführung in die Logik. Dann noch Politische Utopien, aber –
Politische Utopien?
Ja. Aber findet nicht statt.
Was heißt, findet nicht statt?
Was ich sage: war angekündigt, ich habe mich eingeschrieben, aber es findet nicht statt. Und dann noch Klimawandel.
Bitte was?
Klimawandel. Aus ethischer und wissenschaftsphilosophischer Sicht.
Was ist das?
Hauptvorlesung. Pflicht im ersten oder zweiten Semester.
Ich schüttelte den Kopf. Robin nahm die Speisekarte und steckte sie in seinen Rucksack. Der Kellner brachte die Pasta.
Ich bestellte immer etwas Vegetarisches, wenn ich Robin zum Essen traf. Er aß kein Fleisch. Und ich legte bei Tisch Wert auf Symmetrie. Mit jemandem zu essen sollte in jeder Hinsicht etwas Gemeinsames sein. Ich beobachtete ihn, wie er den Wein trank. Er hatte nicht viel Erfahrung mit Alkohol. Er trank den Wein wie einen Saft, hielt dann erschrocken inne und trank sehr viel Wasser nach. Die Pasta war grauenhaft. Dieses Gemüsesugo war viel zu fett. Ich nippte an meinem Wein, sah Robin an. Er aß mit Appetit. In seinem Alter hatte man noch einen guten Magen. Ich schob meinen Teller weg, wollte nicht aufessen.
Hat es geschmeckt?, fragte der Kellner, als er abservierte.
Ja, sagte ich. Ausgezeichnet.
Robin sah mich an und lachte.
Ich weiß genau, was du denkst, sagte ich.
Ist okay, sagte er.
Als Dessert hatten wir Zitronensorbet. Mit einem Schuss Champagner? Ich hatte erwartet, dass Robin ablehnen würde, aber er sagte: Ja, gerne.
Endlich schaute er mich an. Dass er mich so geradeheraus ansah, war mir jetzt genauso unangenehm wie sein gesenkter Blick am Anfang.
Weißt du, worauf ich jetzt Lust hätte?, fragte er.
Ich sah ihn an.
Auf einen Bummel.
Auf einen Bummel?
Ja. Hast du Lust? Wir gehen durch ein paar Lokale und –
Er trank den geschmolzenen Rest seines Sorbets.
Und nehmen überall die Karten mit.
Die Karten?
Ja. Die Speisekarten, die Getränkekarten. Und in einem Jahr wiederholen wir diese Runde und vergleichen die Preise.
Ich musste lachen. Er verarschte mich. Aber ich fand es witzig. Und es wurde witzig. Wir waren wie zwei Detektive, die Beweismaterial zusammentrugen. Gutbürgerliche Lokale bekamen die Aura suspekter Orte. Je später es wurde, desto zwielichtiger wurde das Feld, das wir durchkämmten. Wir sprachen nicht viel. Wir verstanden einander.
Ein dreiviertel Jahr später nahm ich das Angebot der Polizeidirektion an, mit großzügiger Abfindung und Sozialplan aus dem Polizeidienst auszuscheiden. Bald darauf, im Frühjahr 2003, fand ich eine Stelle bei einer privaten Detektiv-Agentur. Beim fünfunddreißigjährigen Jubiläum von 1968, einer riesigen Party im Wiener Rathaus mit dem Bürgermeister, dem Kulturstadtrat und dem Wissenschaftsminister, wurde ich als Held gefeiert: Ich bediente perfekt die romantischen Gefühle der Alt-Achtundsechziger, die in mir nun eine Art Philip Marlowe sahen, einen Aufklärer im doppelten Wortsinn.
Bei dieser Feier traf ich die frühere Freundin von Werner. Sie trug eine große rote Brille, durch die Augen voller Melancholie hervorschauten.
Ich glaube, Werner hätte die Welt heute nicht gefallen, sagte sie.
Ich weiß nicht, sagte ich. Ich glaube, dass jedem, der lebt, die Welt besser gefällt als einem Toten.
Robin gründete eine Facebook-Gruppe gegen den Euro-Umrechnungsbetrug, brach bald darauf sein Studium ab und fand eine Anstellung bei der Arbeiterkammer in der Abteilung für Konsumentenschutz.
Im Grunde ist er eine Art Polizist geworden. Konsumentenschützer. Ich werde das nie verstehen. Ich habe sein Philosophiestudium unterstützt. Aber er ist eine Art Polizist geworden.
Ich sitze an einem Schreibtisch in der behördlich konzessionierten Detektivagentur Fränzl. Es ist ein grauer Tag, dem Kalender nach ein Frühlingstag, ein Tag im Mai, aber einer von der Sorte, wie es sie in Wien auch im Herbst und Winter gibt. Einer jener Tage, die nicht einmal Liebende euphorisch machen, an denen kein Dichter Eindrücke ausdrückt, an denen diejenigen, die rasch mal Zigaretten holen gehen, wieder träge nach Hause zurückkehren, ein Tag, an dem die grauen Anzüge der Kleinbürger in der grauen Atmosphäre wie Tarnanzüge wirken. Ich tippe den Endbericht eines schon abgeschlossenen Falles, lästige Papierarbeit, die so grau ist wie das Licht hinter dem Fenster.
Noch sechs Jahre bis zur Rente.