Fest steht, es muss gemacht werden und es wird heute gemacht. Anne hat den Termin, sie hat ihn heute und nicht morgen, und sie wird da hingehen und dann saugen sie den Embryo aus ihr raus. Sie wird alleine gehen. »Max«, sagte sie, »ich muss das alleine machen, ich will nicht, dass du mitkommst.«
Ich sagte: »Bist du dir sicher? Soll ich dich auch nicht abholen kommen, überleg es dir bitte noch mal, du willst doch nicht wirklich alleine sein, wenn du aufwachst?« Aber Anne legte den Kopf leicht zur Seite und sah mich streng an, als wolle sie sagen: Das ist mein Körper, und deine Suggestivfrage kannst du dir sonst wohin stecken also bitte akzeptier das jetzt einfach. Und das war’s. Abgeklärte Anne. Bei diesem Blick heißt es Klappe halten, sonst schreien wir uns kurze Zeit später an, so viel weiß ich. Das sind Erfahrungswerte. Wir sind über zwei Jahre zusammen.
Anne macht sich ganz groß zurecht. Sie ist schon eine Dreiviertelstunde im Badezimmer, vorhin konnte ich den Fön hören, davor hat sie noch mal geduscht. Wenn wir ausgehen, braucht sie nicht halb so lang und ruft mindestens zwei Mal durch die ganze Wohnung, dass sie nichts zum Anziehen habe. Dann kommt sie in mein Zimmer, stellt sich vor mich hin, immer etwas schief, ein Bein leicht eingeknickt, ziemlich genervt, schnauft angestrengt und fragt, ob sie so gehen könne. Ich bin jedes Mal ein bisschen verliebt in diese Haltung und in das Schnaufen und sage: »Du siehst gut aus. Du siehst fantastisch aus.« Ich sage das bei jedem Outfit, es ist ein Ritual.
Sie kommt aus dem Bad, geht in Unterwäsche direkt in ihr Zimmer und schließt die Tür, sie sagt kein Wort. Ich weiß überhaupt nichts mit mir anzufangen. Ich sitze auf dem Küchensofa und schaue meine Fingernägel an, ab und zu beiße ich ein Stück Nagelhaut ab. Ich warte, ich warte darauf, dass es einfach vorbei ist. Ich lausche in die Wohnung, um zu hören, was Anne macht. Am liebsten würde ich trinken, schon den ganzen Tag. Anne zieht sich an.
Noch vor drei Monaten hätte das alles eigentlich nicht passieren können. Anne hatte kaum noch Lust auf Sex. Das war frustrierend, für sie und für mich, Woche für Woche, immer ein bisschen mehr. Zuerst nur dann, wenn wir versuchten, miteinander zu schlafen, und es immer öfter nicht klappte und wir Rücken an Rücken im Bett lagen, bis einer den anderen sanft am Arm berührte. Später wies sie mich zurück, bevor es so weit kommen konnte. Ich nehme an, sie tat das, weil sie meine offene Enttäuschung und ihre Wut auf den eigenen Körper vermeiden wollte. Besser wurde es dadurch nicht.
Irgendwann begann unsere ganze Beziehung darunter zu leiden. Unser Umgang miteinander wurde distanzierter, Anne setzte sich viel seltener nach dem Frühstück am Sonntag einfach so auf meinen Schoß. Wir küssten uns nicht mehr, wenn einer von uns nach Hause kam. Und wir reagierten viel öfter gereizt auf den anderen, machten uns Vorwürfe wegen irgendwelcher Kleinigkeiten. Das schlich sich ein, wir bemerkten es erst, als es beinahe zu spät war und wir uns nach einem heftigen Streit fragen mussten, ob wir uns überhaupt noch liebten.
Der Frauenarzt sagte, die Pille könne die Lustminderung verursachen. Anne setzte sie also ab. Es half tatsächlich, wir schliefen wieder öfter miteinander. Unser Sex veränderte sich, er wurde besser in dieser Zeit. Ich glaube, vor allem Anne hatte mehr davon. Nur Kondome, die mochten wir nicht. Wir verhüteten auch sonst nicht. Wir ignorierten die Gefahr einer Schwangerschaft einfach, wir sprachen auch nicht darüber, es war mehr ein Geschehen als ein Tun. Vor zehn Tagen kam ich nach Hause und Anne sagte: »Ich bin schwanger.« Das war das erste und letzte Mal, dass sie dieses Wort aussprach.
Es ist vier Uhr nachmittags, der Termin ist in einer halben Stunde, früher ging es nicht, sie haben Anne dazwischengeschoben. Sie ist seit dem Frühstück nüchtern geblieben.
Sie muss noch durch die ganze Stadt fahren. Aber sie lässt sich Zeit fürs Ankleiden. Ich klopfe an ihre Zimmertür. »Was ist denn?«, sagt sie.
»Darf ich reinkommen?«, frage ich.
»Wenn es sein muss.«
Sie trägt eine weiße Bluse, einen schwarzen Hosenanzug und hohe Schuhe. Sie ist stark geschminkt. Roter Lippenstift, Puder, Make-up, Lidschatten, Wimperntusche, dunkler Kajal, Rouge, das ganze Programm, von allem zu viel. Man sieht kleinere Hautunreinheiten unter dem Make-up und einen Rand am Hals. Die Haare hat sie streng zu einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden. Anne sieht überhaupt nicht aus wie Anne. Sie sieht aus wie eine Version von sich, die gleich ein Auto mit gefälschtem Tachostand zu teuer an einen Gebrauchtwagenhändler verkaufen will.
»Jetzt sag wenigstens was«, sagt sie, »sag mir wenigstens, wie ich aussehe.«
»Du siehst gut aus. Du siehst fantastisch aus«, sage ich, »im Wartezimmer werden sich alle in dich verlieben.«
»Das ist ein Frauenarzt, Max. Da werden nur Frauen sitzen. Frauen, die auf einen Arzttermin warten, bei dem ihnen ein Fremder in die Möse guckt.« Sie schaut in den Spiegel. Sie zupft an ihrem Pferdeschwanz, an ihrem Ausschnitt, sie runzelt die Stirn. »Da verliebt sich niemand in niemanden«, sagt sie.
»Was ist denn los?«, sage ich. »Ich wollte doch nur sagen, dass ich finde, dass du gut aussiehst.«
»Ist okay, Max. Ist okay.«
Bisher verlief der Tag eigentlich vollkommen normal. Die üblichen Abläufe am Morgen. Anne ging zuerst ins Bad, ich blieb noch im Bett liegen und sagte ihr, wie schön sie sei, als sie nur in Unterwäsche und mit einem Handtuch auf dem Kopf zurück ins Zimmer kam und wie immer vor dem Kleiderschrank stand. Wir nutzten den Vormittag dafür, mal richtig sauber zu machen. Küchenschränke auswischen, Wasserkocher entkalken, Abflüsse frei machen. Wir redeten kaum. Wenn wir etwas sagten, ging es darum, wie überrascht wir darüber sind, dass geschlossene Schränke von innen so schmutzig werden können.
Einer unserer großen Pasta-Teller ging kaputt, es war der letzte, den wir hatten. Es waren mal vier, alle kaputt. Ich ließ ihn fallen, als Anne ihn mir anreichte. Die Scherben sprangen auf dem Boden in alle Richtungen, Anne fluchte laut und warf mir vor, schrecklich ungeschickt zu sein. Später kochte ich mir Nudeln und aß von einem flachen Teller. Anne sah mir schweigend beim Essen zu, danach ging sie ins Bad.
Sie dreht sich zu mir um. »Das Ding muss aus mir raus. Verstehst du eigentlich, was das mit mir macht?« Sie dreht sich zum Spiegel zurück und streicht sich über die Haare. Sie entfernt den überflüssigen Lippenstift mit einem Taschentuch. Sie nimmt ihre Handtasche und geht an mir vorbei aus dem Zimmer. Ich folge ihr in den Flur und bis an die Wohnungstür.
»Wenn alles problemlos abläuft, wird mich danach übrigens Marie abholen«, sagt sie. »Wir gehen dann noch was essen oder so. Ich rufe an, wenn es vorbei ist. Warte jedenfalls nicht auf mich, ich weiß noch nicht, wann ich wiederkomme.«
»Muss das sein«, sage ich, »muss das jetzt auch noch sein?«
»Mir saugen sie gleich was raus, Max, mir! Aber mach dir keine Sorgen, ich komm damit klar.«
Ich wusste direkt, dass ich es nicht bekommen wollte. Ich reagierte klar, von Anfang an. Ich sagte: »Ich kann mir das grad nicht vorstellen.« Anne weinte. Ich sagte: »Also, generell schon, auch mit dir, aber halt nicht jetzt.« Wir waren erst vor einem halben Jahr zusammengezogen. Anne hatte grade ihre eigene Gruppe im Kindergarten übernommen. Ich musste meine Diplomarbeit schreiben und mich auf die Abschlussprüfungen vorbereiten. Für den Sommer hatten wir eine große USA-Reise geplant. Das war die Situation. Wir saßen auf dem Bett, wir hielten uns und konnten nicht fassen, wie dumm wir gewesen waren. Wir schlugen auf die Matratze und warfen die Kopfkissen vom Bett. Wir waren uns einig darüber, dass eine Schwangerschaft eine frohe Nachricht sein sollte. Wir sprachen nicht aus, was das bedeutete, wir beschlossen nur, unseren Eltern nichts davon zu erzählen. Anne sagte, ihr werde vom Geruch von Kaffee und Zigaretten schon schlecht.
Sie geht, ohne mich vorher noch mal zu küssen oder in den Arm zu nehmen, die Treppe runter. Ich bleibe in der Wohnungstür stehen. »Hast du den Schein dabei?«, rufe ich ihr hinterher. Anne stoppt auf dem Treppenabsatz. Sie hält sich am Geländer fest, schaut über ihre Schulter zurück nach oben. Direkt über ihr hängt eine Deckenlampe, ihr Licht wirft Schatten in Annes Gesicht, sie liegen unter ihren Augen und auf den Wangen. Sie sieht hart aus. Meine liebe kleine Anne, das Mädchen, das nach unserer ersten gemeinsamen Nacht vor dem Kleiderschrank stand und nicht wusste, welche Socken es anziehen soll, dieselbe Anne steht jetzt straff in gebügelter Bluse und auf Absätzen ein halbes Stockwerk unter mir; und ihr Blick ist auch hart und sie sagt: »Ja, ich habe den Schein.«
»Bist du sicher?«, sage ich, »schau noch mal nach. Du brauchst den Schein.«
Aber Anne antwortet mir einfach nicht mehr und geht die Stufen runter. Ihre Absätze lassen ein dumpfes Geräusch durch den Hausflur schallen. Ich stehe an der offenen Wohnungstür und kratze an einer Hautunebenheit an meinem Hals. Dann fällt die Haustür ins Schloss. Ich konnte mir während der letzten zehn Tagen nie vorstellen, wie Anne hochschwanger ausgesehen hätte.
Das letzte Mal hat Anne auf dem Nachhauseweg vom Frauenarzt geweint. Sie geht seit ihrer ersten Periode dorthin. Wir fuhren durch das Viertel ihrer Jugend, und Anne schaute die ganze Zeit aus dem Fenster und weinte stumm. Wir hatten Gewissheit, die Ärztin hatte auf den Ultraschallmonitor gezeigt und gesagt: »Ja, hier, sehen Sie das, Sie sind schwanger.« Mit viel Fantasie konnte man ein fingergliedgroßes Würmchen erkennen. Sie gab uns eine Broschüre mit Adressen von Stellen, die Schwangerschaftskonfliktberatungen anbieten und wir fuhren nach Hause und Anne weinte.
Ich gehe zurück in die Wohnung und schaue aus dem Fenster auf die Straße. Anne ist nicht mehr zu sehen. In der Küche nehme ich mir ein Bier aus dem Kühlschrank. Ich merke, dass meine Hand zittert. Ich lege den Öffner neben die Flasche, stütze mich an der Arbeitsplatte ab und atme tief durch. Dann strecke ich beide Hände vor mir aus. Ich zittere. Ich schaue auf meine zitternden Hände und erinnere mich daran, wie mein Vater einmal zu mir sagte, dass er seit damals, seit meiner Geburt, die Kontrolle über sein Leben verloren habe: Er würde nur noch reagieren, nicht mehr agieren, es sei ein ständiges Auf-Sicht-Fahren. Er hatte keinen Vorwurf in der Stimme, eher war es Verwunderung über diese Erkenntnis. Wir saßen unter einem blühenden Kirschbaum im Garten meiner Großeltern und tranken kühles Bier. Er stand auf und ging zurück zur Terrasse, auf der drei Generationen beieinandersaßen. Mein Vater war 26, als ich geboren wurde, so alt wie ich jetzt.
Wir erzählten niemandem davon. Wir fuhren übers Wochenende aufs Land, weg von allem, in eine kleine Pension mit Eichenholzeinrichtung im Frühstückszimmer. Wir guckten uns das Dorf an, grillten auf der Terrasse des Gästehauses und gingen auf Feldwegen spazieren.
Abends stellten wir uns vor, was passieren würde, wenn wir es bekämen. Wir besprachen nur Organisatorisches. Geld, Elternzeit, Wohnsituation. Wir bestimmten jeweils einen engen Freund, mit dem wir über die Sache reden wollten. Wir stellten uns nicht ein einziges Mal gemeinsam vor, wie das Baby auf dem Wickeltisch liegt. Wie es uns angrinsen und dabei pupsen würde, wie es zum Stillen an Annes Brust liegen, wie es durch die Wohnung robben oder seine ersten Worte sprechen würde.
Wir sprachen auch nicht über die anstrengenden Seiten der ersten Elternjahre, die schlaflosen Nächte, die generellen Einschränkungen. Über nichts davon. »Wir müssten umziehen«, so redeten wir.
Nur während unserer Spaziergänge oder wenn ich abends noch wach im Bett lag, dachte ich daran, wie es wäre, jetzt einen Kinderwagen zu schieben oder neben Annes noch einen Schlafatem im Zimmer zu hören. Aber ich sprach diese Gedanken nicht aus. Am letzten Abend rauchte und trank Anne wieder. Das Wort Abtreibung war nicht gefallen.
Ich sitze am Küchentisch, vor mir stehen mittlerweile drei leere Bierflaschen. Ich habe die Stirn auf meine Hand gestützt und warte immer noch. Mir fällt auf, dass wir die Tischplatte mal wieder einölen müssten, das Holz ist ganz trocken und ausgebleicht. An einer Stelle kann man eine tiefe und runde Einkerbung sehen. Ein Überbleibsel eines unserer Streite. Ich war so aufgebracht, dass ich ein Glas mit dem Boden auf den Tisch schlug.
Ich nehme mir ein neues Bier aus dem Kühlschrank und setze mich wieder. Das Zittern ist schon etwas besser geworden. Es ist still, unglaublich still. Ich höre nur das Ticken der Wanduhr. Es macht mich nervös, ich nehme sie von der Wand und entferne die Batterie. Sie bleibt auf 18:12 Uhr stehen. Ich lege sie umgedreht auf den Tisch, neben die leeren Flaschen. Ich denke an Anne und daran, wie mehrere Ärzte und Assistenten vor ihren geöffneten Beinen herumlaufen. Wie sie daliegt, mit dem Beatmungsschlauch im Mund. Wie der Narkosearzt neben ihrem Kopf sitzt und das Herz-Diagramm beobachtet, wie er auf den Herzschlag meiner Anne aufpasst, während sie ihr vorne sterile Instrumente reinschieben. Ich beginne zu schwitzen, im Nacken, auf der Stirn und an den Unterarmen. Ich frage mich, ob alles gut gegangen, ob sie schon wieder aufgewacht ist. Ob es erledigt ist. Ich trinke das vierte Bier aus.
Ich glaube, für die pro-familia-Beraterin waren wir ein einfacher Fall. Wir hatten unseren Beschluss bereits gefasst. Wir brauchten den Beratungsschein und wussten, dass jeder einen bekommt, der ein Beratungsgespräch in Anspruch nimmt. Auf einem Zettel sollten wir Gründe für den Schwangerschaftskonflikt angeben. An Stelle eins und zwei standen familiäre, partnerschaftliche Probleme und Kindesvater steht nicht zur Schwangerschaft/zur Frau. Ich machte meine Kreuzchen bei dreizehn, finanzielle/wirtschaftliche Situation und sechzehn, Ausbildungs-/berufliche Situation und schob den Zettel über den Tisch. Anne konnte sehen, was ich angegeben hatte. Dann legte sie ihren Zettel mit der Vorderseite nach unten auf den Tisch und schob ihn zur Beraterin rüber.
Die Beraterin betrachtete unsere Zettel und fragte dann:
»In Prozenten ausgedrückt, wie sehr wollen Sie dieses Kind nicht bekommen?«
»Zu neunzig Prozent«, sagte ich.
Anne schaute mich von der Seite an, dann sagte sie: »Neunzig Prozent.«
Nach dreißig Minuten war unser Beratungsschein gestempelt. Anne steckte sich noch mehrere Infobroschüren aus einem Aufsteller in die Handtasche. Es war eine Stunde für das Gespräch angesetzt gewesen.
Es ist nach neun. Anne hat immer noch nicht angerufen. Ich trinke Bier, und ich trinke es immer schneller. Mittlerweile bin ich betrunken, ich laufe in der Küche auf und ab, durch den Flur. Ich laufe wie getrieben durch die ganze Wohnung. Ich sorge mich nicht mehr, ich bin wütend, auf Anne, auf uns, auf alles. Ich schwanke leicht und stoße mich an einem Türrahmen. Du solltest dich beruhigen, verdammt noch mal, denke ich. Ich schalte den Fernseher ein, ertrage aber keine einzige Sendung länger als fünf Minuten. Auf jedem Sender löst irgendetwas eine unangenehme Assoziation in mir aus. Ich kann noch nicht einmal eine Kochsendung anschauen. Ich zappe weg, weil das Entkernen einer halbierten Honigmelone gezeigt wird. Ich schalte den Fernseher wieder aus und schließe die Augen, dann klingelt mein Handy.
»Ich wollte anrufen«, sagt Anne.
Ich höre Musik im Hintergrund, Stimmen. »Wie geht es dir?«, sage ich, »ist es vorbei? Wo bist du?«
»Keine Ahnung«, sagt sie, »ich bin irgendwo. Marie ist da. Wir essen hier jetzt was.« Sie klingt erschöpft, sie spricht langsam und mit schwerer Zunge.
»Komm nach Hause«, sage ich, »bitte. Komm nach Hause.«
»Wir essen hier jetzt was, das habe ich dir gesagt. Warte nicht auf mich. Ich muss jetzt Schluss machen.«
»Warte«, sage ich, »verdammt, jetzt warte kurz. Ist alles in Ordnung?«
»Jaja, ich muss zur Toilette«, sagt sie. Dann ist die Leitung tot.
Ich rufe sofort zurück, ein Mal, zwei Mal, beim dritten Mal weist sie den Anruf ab. Als ich das vierte Mal anrufe, geht sofort ihre Mailbox an. Ich werfe mein Handy auf den Boden, der Akku springt raus. Ich schnappe nach Luft und muss mich auf den Boden setzen. Ich weine das erste Mal, seit Anne zu mir sagte, dass sie schwanger sei. Ich weine hysterisch und schreie einmal laut. Dann stehe ich wieder auf, wische mir mit der Hand über das Gesicht und setze mein Handy wieder zusammen. Ich beginne, die Wohnung nach Hinweisen darauf zu durchsuchen, wo Anne mit Marie hingegangen sein könnte. Ich lese die Notizzettel auf ihrem Schreibtisch. Ich fahre ihren Computer hoch und lese ihren Browserverlauf. Ich bin fest entschlossen, herauszufinden, wo sie ist, und dahin zu fahren und sie nach Hause zu holen. Nach einem Restaurant oder einer Bar hat sie in den letzten drei Tagen nicht gesucht. Dafür scheint sich Anne durch alle deutschsprachigen Schwangerschaftsabbruchforen dieser Welt gelesen zu haben. Durch Threads mit den Titeln: Ewige Erinnerung oder Der errechnete Entbindungstermin jährt sich. Mein Blick fällt auf den Stapel Infobroschüren, die Anne bei pro familia mitgenommen hatte. Auf den Deckblättern sind glücklich aussehende Eltern mit Kleinkindern abgebildet: Elterngeld und Elternzeit, Studieren mit Kind, Schwanger in Berlin. Ich lösche den Browserverlauf. Ich packe mir die Infobroschüren, trage sie direkt in den Keller und werfe sie in die Papiertonne. Auf dem Weg zurück in die Wohnung höre ich mein Handy klingeln. Ich sprinte die Treppe hoch.
»Wo bist du?«, frage ich.
»Hier ist Marie«, sagt Marie, »ich soll dir von Anne sagen, dass alles in Ordnung ist. Wir sind in einem Restaurant, ich bringe sie später nach Hause.«
»In welchem Restaurant? Ich hole euch ab«, sage ich.
»Max«, sagt Marie, »Anne möchte nicht, dass du herkommst. Ich bringe sie später nach Hause, mach dir keine Sorgen. Bitte ruf nicht mehr an.«
Sie legt auf.
Ein paar Minuten später rufe ich Anne erneut an, die Mailbox meldet sich. Annes Ansage ist fröhlich, sie kling gut gelaunt und glücklich, man möchte dieser Stimme gerne eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen.
Nach dem Signal sage ich mit stockender Stimme: »Anne, hier ist Max. Wenn ich irgendwas falsch gemacht habe, dann tut es mir leid. Aber bitte komm jetzt nach Hause. Komm nach Hause, ja? Ich halte das nicht mehr aus … Ich liebe dich.«
Ich stehe am Fenster und halte Ausschau. Bei jedem heranfahrenden Auto hoffe ich, dass es ein belegtes Taxi ist, in dem Anne sitzt. Ich trinke jetzt übrig gebliebenen und billigen Schnaps mit Eiswürfeln. Mein Handy liegt neben mir auf der Fensterbank. Im Haus gegenüber sitzt ein Paar Arm in Arm vor dem Fernseher. Ein Schwarm Insekten umschwirrt das Licht einer brennenden Straßenlaterne. Wieder fährt ein Auto langsam heran, aber es hält nicht. Ich frage mich, wann ich Anne verloren habe auf diesem Weg. Ich suche nach einem Moment, irgendeiner Geste, einem Satz, der mir hätte anzeigen müssen, dass bei ihr in den letzten zehn Tagen ein komplett anderer Film ablief als bei mir. Mir wird klar, dass ich nicht weiß, wie es mit uns weitergehen soll.
Ich wache auf, als ich höre, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wird. Der Fernseher flimmert stumm und wirft im Takt der Filmschnitte ein schwaches Licht ins Zimmer. Ich stehe auf und gehe schnell in den Flur. Anne stößt beim Reinkommen gegen die Wand. Ihre Schminke ist verschmiert, ihr Gesicht seltsam verzogen, sie hat geweint. »Anne …«, sage ich und gehe auf sie zu.
Sie macht einen halben Schritt zurück, hält sich die Hände abweisend vor die Brust und schaut an mir vorbei. Sie sieht aus wie ein Stoppschild.
»Anne …«, sage ich noch mal, »es ist doch vorbei jetzt, es ist überstanden.«
Sie antwortet nicht, schiebt sich nur mit erhobenen Händen an mir vorbei und achtet darauf, mich nicht zu berühren. Als sie neben mir ist, versuche ich sie sanft am Kinn zu fassen, damit sie den Kopf hebt, damit sie mich wenigstens ansieht, damit ich weiß, was eigentlich los ist. Sie greift mich am Handgelenk, sieht mich an und führt meine Hand ganz langsam wieder nach unten. Es fühlt sich an wie eine Drohung. Aus ihren Augen schreit mich dabei eine Verachtung an, von der ich Gänsehaut im Nacken bekomme. Dann geht sie in ihr Zimmer.
Ich höre, wie sie etwas unter dem Bett hervorzieht. Ich gehe hinterher und bleibe auf der Türschwelle stehen. Anne packt eine Reisetasche, sie sagt: »Ich schlafe heute bei Marie.«
*This story is taken from: "Das Licht der Flammen auf unseren Gesichtern" by Dorian Steinhoff © mairisch Verlag 2013.