Was man denken könnte, kurz nachdem man sich von ihm verabschiedet hat und kurz bevor man durch die Tür des Hauses hinaustritt:
1. Was ist das für ein Photo, das hier hängt?
2. Ist das sie auf dem Photo, das hier hängt?
3. Dass sie vor einem nicht sehr hohen Holzlattenzaun steht, der sie von einer kleinen Gänseherde trennt, könnte man denken. Ihr Körper nach oben gereckt, ihr Kopf nach hinten geworfen. Nicht zu sehen ist, wo ihr Blick hingeht.
4. Dass das Photo an einer dieser schmalen Wände hängt, die zwischen Ecken und Türen eingeklemmt sind; das sind Wände, an denen Kalender und kleine Bilder hängen; das sind keine Wände, denen man sich beim Laufen durch die Räume gegenüber sieht; es sind Wände, an denen vorbeigegangen wird.
Wenn man nicht daran vorbeigeht, sieht man ein Photo, das sie sich, als sie noch lebte, niemals an die Wand gehängt hätte: vor ihrem Zaun stehend, vor ihren Gänsen, während diese gemütlich durch die Pfützen gehen, die fast überall untief ihre ausgefächerten Füße umstehen. Die Gänse sehen sie nicht an, sie sehen zueinander oder sich selbst ins Gefieder. Ihr Federfell ist nicht schmutzig, im Gegenteil: es ist sehr weiß. Manche haben den Schnabel nicht in die Federn gesteckt, sie recken den Hals, als versuchten sie, die Pfützen nicht zu durchqueren, sondern sich aus ihnen herauszuziehen. Und auch sie, könnte man denken, sieht aus, als versuchte sie, sich irgendwo herauszuziehen, aus tiefstem Schlamassel in äußerst saubere Luft, dabei so gewollt angestrengt, dass sie kurzzeitig alle über die Jahre sich angeeigneten Auffassungen von Sauberkeit vergessen haben musste.
Was man denken könnte:
Dass sie nicht gemerkt haben konnte, wie sie photographiert, wie ihr Verhalten zu einem Bild wurde. Nie war es zu Ausschweifungen ihres Körpers gekommen; allenfalls ihres Mundes: auffällig viele Personen, die ihr nicht gewogen waren aus bestimmten Gründen – idiotischen, wie sie sagte –, waren gestorben, kurz nachdem sie sie leise verflucht hatte.
Der Weg auf dem Photo würde sie zum Haus führen, ginge sie ihn weiter: am Zaun entlang, über den Rand des Photos hinaus, hierher, wo jetzt auf ihr Photo geblickt wird, auf einen in fast sturer Dauerhaftigkeit in sich zusammengefallenen Körper, der sich sehr plötzlich nach oben aufgerichtet zu haben scheint, senkrecht die Sonne hinauf, hinein in den Wind, der in der Höhe weht, in die sie sich hineingereckt hat. So steht sie da, vor dem Zaun, während auf der anderen Seite Wald- und Wiesengänse gehen, die so konsequent vermeiden, sie direkt anzusehen, als würde dieser Blick seit Jahrhunderten vom Baltischen Meer bis zum Atlantischen Ozean geübt, nachdem Zugvögel ihn aus dem afrikanischsten aller Länder eingeflogen hatten und aus der Luft, wie eine himmlische Fügung, auf die Tiere fallen ließen.
Ihnen zu Füßen, erahnbar: Gänseblümchen, Gänsefingerkraut, Gänsedisteln, Gänsekresse, Gänsefußgewächse. Gänse leben auf einer Erde, die nur nach ihnen benannt ist und sich aus wachsender Dankbarkeit, umgangen zu werden, jeden Morgen bis an ihr absehbares Ende, einen Zaun, produktiv nach oben ausdehnt. Auf der Umgehung steht sie und sieht sich nicht um und merkt nicht, dass sie photographiert wird. Die Arme ausgestreckt neben sich, vor ihr stumpfes Holz, über ihr kreiselnde Luft.
Nie hatte sie sich so verhalten, nicht außerhalb und auch nicht innerhalb dieses Hauses, in das sie, aus der Stadt kommend, gezogen war. Aus Liebe – später sagte sie: aus Idiotie – hatte sie einen Mann geheiratet, der mit 18 Jahren Hitlers Leibgarde beigetreten war; später promovierte er in Ornithologie.
Die Kamera hatte sie in sich hineingeklappt und erst über einem Papierbogen wieder aufgefaltet, in einer freigiebigen Geste – unentscheidbar, ob sie die Abgebildete oder das Abbildende zu verantworten hatte, an dieser schmal an vier Kanten vorbeiziehenden Wand, vor der man jetzt steht: mit ihm. Und zu dem er versucht, Auskunft zu geben, das heißt: hinüber zu seinen Büchern geht, sie aufschlägt und sie zuschlägt und dies auch drei Zimmer weiter tut, während man ihn murmeln hört: Zweitmünder, Zweitmünder. So heißt ornithologisch aller Gänsearten Überstamm, aber wie heißt der Stamm? Irgendwo muss es stehen – und auch, weshalb Erkenntnis entsteht, indem man etwas schlägt, damit es sich öffnet, und schlägt, damit es sich schließt.
Am Rande der winzigen Gänseherde ist ein winziger Bach. Das Bachwasser fließt waagerecht in die Luft hinein, von rechts nach links – gegen die Bewegung der über das Photo kreisenden Gedanken. Möglich, dass entgegen dem sehr eigenen Blickverhalten die Laute der Gänse, wenn auch auf unsichtbaren Bahnen verlaufend, der Person gewidmet waren, die am Zaun stand, vor allem die tieferen und kräftigeren, weiblichen Töne. Möglich, dass die Gänse nicht geschnattert, sondern geschrien haben. Möglich, dass ihnen deshalb der Schnabel so weit offensteht. Möglich, dass sie zurückgeschrien hat, den Kopf nach hinten, senkrecht in die Luft. Ihr Körper beim Schreien sich nach oben geworfen hat, eine Bewegung, die sie sehr lange nicht mehr oder nur heimlich ausgeführt hatte. Dabei jemanden verflucht hat, diesmal sehr laut, weil sie alleine war. Möglich, dass der Photograph deshalb das Photo niemandem außer ihr gezeigt hatte und überlebte, weil er den Beweis ihrer akrobatischen Seele bis zu ihrem Tod vor anderen versteckt hatte. Wobei in diesem Fall zu fragen wäre: mit welcher Absicht der Photograph sie photographieren wollte; ob sie ihm zufällig vor die Linse getreten war; oder ob sie ihn womöglich bereits Tage zuvor hörbar verflucht und er seitdem schweißgetrieben versucht hatte, sie in einer für sie undarstellbaren, unvorstellbar darstellbaren Haltung abzulichten und damit zu erpressen. – Möglich, dass sie angesichts der Gänse, angesichts einer Tierunterform aus dem Überstamm der Zweitmünder, nichts gesagt hatte, dass sich in der schwarz auf weiß erfassten Haltung die Luft wie ein Netz um sie gespannt hatte, mit hartem aber feinem Garn, das an der Brust am weitesten und am Hals am engsten liegt; dass sie festgestellt hatte, wie schön und nutzlos Perspektiven sind, wenn alles so nah an einem dranliegt, auch wenn alles Nahliegende sich gleich wieder entfernt, wie am Abend die Helligkeit, die tagsüber aus einem bis zum Rand mit Licht gefüllten Himmel kommt.
Ob ihm die ornithologisch korrekte Bezeichnung des Stammes einfallen wird, wenn er die Bezeichnung des Überstammes, jetzt auf Latein, vor sich hin skandiert?
Über den weiß gefiederten Köpfen, den hochgereckten, vor denen sie sich hochgereckt hat: die hellen Blätter der Hainbuchen, oder Weißbuchen. Sind auch sie, worauf die Logik bereits aufgeführter Pflanzennamen drängt, benannt nach den darunterweilenden Tieren? Die Blätter der Weißbuchen hängen dicht an ihren Zweigen und die Zweige wachsen nicht weit weg von ihrem Stamm, das ganze Ensemble mehr Strauch als Baum.
Man könnte denken: ihr Scheitel sieht ganz ungezogen aus in der sonst sehr aufgeräumten Landschaft.
Dass die Hainbuchen dort hinten noch immer stehen, könnte man denken, kurz nachdem man sich ein zweites Mal von ihm verabschiedet hat und kurz bevor man durch die Tür des Hauses hinaustritt. Davor noch immer der Zaun. Davor der Weg. Am Zaun entlang werden Spaziergänge gemacht und es wird hinübergeschaut, als man durch die Tür des Hauses hinaustritt. Unter den Spaziergängern ist ein Kind, das versucht stehenzubleiben und durch den Zaun hindurchzusehen, seine Hand wird von der Hand eines Spaziergängers festgehalten. Das Kind ist sehr klein und tapsig und gibt sich Mühe, das zu sehen, was die Zaunlatten abwechselnd verbergen und freigeben:
die Unterfamilie der Gänse.
Familie: Gänsevögel.
Ordnung: Entenvögel.
Klasse: Vögel.
Reihe: Landwirbeltiere.
Überklasse: Kiefermäuler.
Unterstamm: Wirbeltiere.
Überstamm: Zweitmünder.
Unterabteilung: Zweiseitentiere.
Abteilung: Gewebetiere.
Unterreich: Vielzellige Tiere.
Reich: Tiere.
Domäne: Zellkern besitzende Organismen.
Klassifikation: Lebewesen.
Ausgezeichnet war das Wetter an diesem Tag, hört man ihn im Inneren des Hauses rufen, wie auf der Suche nach einem und dann an einem Fenster: Über den Gänsen standen die Wolken, sie bewegten sich kein Stück!
Jetzt könnte man etwas denken, aber:
Man nickt.
Das Kind schafft es nicht stehenzubleiben. Die Zaunlatten, an denen das Kind vorbeigezogen wird, erinnern an Augenlider, die flattern und das Gesehene verschwimmen lassen; wären sie Münder, plapperten sie, ohne etwas von dem zu verraten, was sie sagen. Das Kind versucht trotzdem, wenigstens mit den Augen zu dem Verborgenen hinter dem Zaun durchzudringen. Es sieht nicht so aus, als würde das Kind gleich hochgehoben, um mehr sehen zu können. Jemand zieht an seinem Arm (derselbe, der vorher seine Hand gehalten hat), und zieht an seinem Arm, bis alle Spaziergänger am Zaun vorbeigezogen sind; den Weg weitergehend, senkt sich langsam der Kopf des Kindes, so langsam, dass es anstrengt, dem enttäuschten Zaungast dabei zuzusehen.
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