Volker Zastrow

Ein Abend mit Überlänge. Zur Kunst des japanischen Dichters Yasushi Inoue

Volker Zastrow

Ein Abend mit Überlänge. Zur Kunst des japanischen Dichters Yasushi Inoue

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Die Bekanntschaft mit Werken des japanischen Dichters Yasushi Inoue danke ich einer jungen Kollegin, mit der ich im vergangenen Winter einen langwierigen und anstrengenden Abend verbrachte. Zu jener Zeit lebte ich seit einigen Monaten von meiner Frau und meinem Sohn getrennt, ich hatte in einem hochgelegenen Ort im Taunus ein Hotelzimmer gemietet. Die Schuld an der Trennung lag allein bei meiner Frau, sie hatte, soweit ich zurückdachte, unentwegt an mir herumgenörgelt. Und meine Geliebte besaß größere Brüste. Sie lebte allerdings einige hundert Kilometer entfernt in Bremen. Ich hatte also genug Zeit und Gründe, über alles mögliche nachzudenken, zum Beispiel auch über Frauen.

An dem besagten Tag war die junge Kollegin, die mich auf Inoue aufmerksam machen sollte, morgens in meinem Büro in der Redaktion erschienen. Wir unterhielten uns über einen Text, den sie für die Zeitung geschrieben hatte. Mit dem ersten Satz hatte sie sich besonders viel Mühe gegeben, er klang großartig, erwies sich bei näherem Hinsehen aber als hohl. Auch sonst war das Manuskript mißglückt, aus Gründen, die sich nicht nur bei Leuten finden lassen, die gerade ihren Universitätsabschluß gemacht haben, bei diesen jedoch besonders häufig. Die Verfasserin wußte nicht recht, was sie eigentlich sagen, aber um so besser, wie sie selbst in ihrem Text erscheinen wollte, und das hatte durchgängig ihre Wortwahl, den Satzbau und den Inhalt ihres Manuskriptes bestimmt. Vielleicht hatte sie sich auch nur keine Blöße geben wollen, aber das lief auf dasselbe hinaus. Meine Aufgabe bezog sich ohnehin nicht auf Ursachen, sondern auf Wirkungen.

Nachdem ich der jungen Kollegin gezeigt hatte, daß der Text nichts verlor, wenn man den offenbar in wochenlanger Arbeit erfundenen Einleitungssatz einfach strich, sie auf weitere Mängel hingewiesen und ihr schließlich geraten hatte, das ganze als mißlungenen Versuch zu betrachten und neu zu beginnen, brach sie in Tränen aus. Etwas Ähnliches war mir vor Jahren schon einmal mit einer Mitarbeiterin passiert, die sich schwer damit tat, daß ich als der Jüngere ihr neuerdings Anweisungen zu geben hatte, und die vermutlich aus diesem Gefühl heraus allen meinen Plänen hinhaltenden Widerstand entgegensetzte. Ihr Weinen hatte mir damals die Sprache verschlagen. Eigentlich war es nur um die zweckmäßige Gestaltung bestimmter Aktenvermerke gegangen, doch angesichts der schmalen, bebenden Schultern der schluchzenden Frau, die mir, wie um ihre Tränen zu verbergen, den Rücken gekehrt hatte, kam ich mir plötzlich hartherzig und roh vor und suchte sie verschreckt zu trösten. Später wurde mir klar, daß sie mit diesem Trick nur ihren Willen durchgesetzt hatte.

Deshalb beeindruckten mich diesmal die Tränen der jungen Kollegin nicht weiter. Ich vermutete, daß sie weinte, um mich zum Abdruck ihres Manuskriptes zu bewegen. Tatsächlich versiegten ihre Tränen sogleich, als ich ihr zusagte, den Text in den Satz zu geben, und auf ihrem Gesicht erschien ein befreites, wenn auch ein wenig verschämtes Lächeln. Zwar ärgerte ich mich über den heimtückischen Angriff auf die Ruhe meines Herzens, aber ich tröstete mich damit, daß die angemessene Strafe mit der Veröffentlichung des belanglosen Textes in einer bedeutenden Zeitung gesichert sei.

So war beiderseits die Zufriedenheit wiederhergestellt, und es entspann sich eine unverfängliche Plauderei, in deren Verlauf ich auf den Gedanken kam, sie am Abend fortzusetzen. In mein Zimmer hinter dem Berg zog es mich nicht zurück, und ebensowenig verlockte mich die Aussicht, wieder einmal zu nächtlicher Stunde im Büro des ausgestorbenen Verlagshauses zu sitzen und mich von wehen Gedanken an mein zugleich so nahes wie unerreichbar fernes Zuhause bedrücken zu lassen, wo ich meine entgeisterte Frau und mein trauerndes Kind wußte.

Also lud ich die junge Kollegin zum Essen ein. Mit einer Frau von fünfundzwanzig Jahren hatte ich mich schon lange nicht mehr unterhalten. Wie ich in diesem Alter gefühlt und gedacht, wie ich mich selbst gesehen hatte, meinte ich zwar noch einigermaßen zu erinnern, aber doch nicht gut genug, um mir vorstellen zu können, was ich nun, mit bald vierzig, in meinem dreizehn Jahre jüngeren anderen Ich auffinden würde, wenn ich ihm nur hätte begegnen können. Die Möglichkeit bestand nicht, doch vielleicht mochte es mir gelingen, statt dessen in diese junge Frau hineinzuschauen und auf diesem Umweg auch ein wenig in meine eigene Vergangenheit.

Diese Absicht erfüllte sich nicht, und in den zähen Stunden am Abend hielt ich mir wiederholt vor, daß ich das eigentlich von Anfang an gewußt hatte. Zum Beispiel war mir sonnenklar, daß ich auch mit fünfundzwanzig nicht so eigensinnig gewesen wäre, den Abdruck eines Manuskriptes, dessen ich nicht sicher sein konnte, gegen den Rat eines Erfahreneren durchsetzen zu wollen − und wenn nicht aus Einsicht, so doch aus Vorsicht. Und selbstverständlich wußte ich, daß ein Mensch, der mir morgens selbstgerecht und herrschsüchtig begegnet, sich am Abend schwerlich als aufmerksam und bescheiden erweisen wird.

Andererseits war sie eine Frau. Obgleich ich das Geheimnis der Frauen zufällig am vergangenen Wochenende gelöst hatte, dachte ich doch, daß es nicht schaden könne, für meine frischen Einsichten weitere Beweise zu sammeln, falls mein anderes Vorhaben − der Rückblick in die Vergangenheit − sich nicht verwirklichen lassen würde.

Übrigens soll, lieber Leser, dieser Text ein Essay sein, und sein Gegenstand ein Thema, das mich seit längerem und Sie seit ungefähr fünf Minuten beschäftigt: die Selbstdarstellung des Autors in seinem Text. Wenn Sie allerdings glauben, ich hätte bei dem Treffen mit der jungen Dame eine weitere Absicht verfolgt, die ich Ihnen verschweige, so möchte ich in aller Deutlichkeit sagen, daß Sie sich in diesem Punkte täuschen! Erstens hatte ich eine feste Geliebte (die mit den riesigen Brüsten), und zweitens schlief ich, wenn ich nicht in Bremen war, so ziemlich jeden Tag mit meiner Frau. Ich fand das alles selbst nicht richtig, aber so war es eben, und, weiß Gott, es genügte mir. Nur zur Sicherheit ließ ich in meinem Hotel Bezüge für die andere Betthälfte auflegen − ich bewohnte dort nämlich ein Doppelzimmer. Aber nein, was sage ich: Ich ließ die andere Betthälfte durchaus nicht beziehen, sondern überlegte nur, ob ich sie sicherheitshalber hätte beziehen lassen sollen, nahm dann jedoch Abstand von dieser unsinnigen Idee! Ja, so war es.

Ich verband also in keiner Beziehung hochgespannte Erwartungen mit dem Treffen. Sein Ort war eine kleine Sushibar mit vier Tischen, die das Nebengelaß eines japanischen Restaurants bildete, in dessen geräumiger Gaststube theatralisch auftretende Köche heißes Essen an denselben Tischen zubereiteten, an welchen die Gäste saßen. Die gesamte japanische Wirtschaft wiederum machte den kleineren Teil eines Komplexes aus, dessen größeren ein Chinarestaurant beanspruchte − obwohl doch ansonsten die Beziehungen zwischen Japanern und Chinesen seit geraumer Zeit insgesamt eher unerfreulich sind. Unmittelbar an die beiden Restaurants grenzte die doppelstöckige Eingangshalle eines Hotels, und all das überwölbte eine kristallene Ladengalerie inmitten der Frankfurter Innenstadt. Wegen dieser verzwickten Verhältnisse wirkte die kleine Bar immer irgendwie abgelegen. Als wir dort eintrafen, fielen draußen schon Schneeflocken, und das Schmelzwasser von den Stiefeln der Leute trübte den Widerschein der elektrischen Lichter auf dem Fliesenboden der Passage.

Es wurde ein Abend mit Überlänge. Insgeheim überlegte ich wieder und wieder, warum zum Teufel ich ihm kein Ende setzte, und ich fand dafür auch verschiedene Gründe, die durchweg weder für mich noch für die Kollegin sonderlich schmeichelhaft waren. Doch sowenig wie die junge Frau am Vormittag vermochte nun ich mich dazu durchzuringen, mißraten sein zu lassen, was mißraten war. Statt dessen führten wir mit abnehmenden Kräften, nachdem das Essen vorüber war, unser fades Gespräch in einer Ecke der Hotellobby bei Weißwein und Salzmandeln fort, während eine gelangweilte Sängerin in rosa Polyesterhosen auf einem Podest zur Keyboard-Begleitung Evergreens ausschied. Der Abend endete wie jene Flüsse, die ohne je das Meer zu erreichen inmitten der Wüste versiegen.

In der Stadt draußen lag inzwischen allerdings dicker Schnee. Ich betrachtete diesen Schnee als einen Schnee, der es mir unmöglich, und wenn nicht schlechterdings unmöglich, so doch unverhältnismäßig schwer gemacht hätte, mit Sommerreifen über den Feldberg zu meinem Hotel zu gelangen. Zwar hatte ich die Richtung schon eingeschlagen, doch nach einigem Bedenken wendete ich den Wagen und steuerte ihn unter rätselhaftem Gewissenszwicken ostwärts durch menschenleere, taube Straßen, zu meinem früheren Zuhause, in meine frühere Garage. Von dort begab ich mich in meine frühere Wohnung in mein früheres Schlafzimmer in mein früheres Bett zu meiner früheren Frau. Aus heutiger Sicht räume ich ein, daß ich am vorläufigen Ende dieses erschöpfenden Abends irgendwie doch am Ziel angelangt war (anders als jene Flüsse, die ohne je das Meer zu erreichen inmitten der Wüste versiegen), auch wenn ich von diesem Ziel sowenig gewußt hatte wie irgendein Fluß vom Meer − oder ebensoviel. Das einzige, was mir sicher zu sein schien, war, daß meine frühere Frau, wenn ich unerwartet nachts um halb zwei mit kalten Füßen unter ihre Decke schlüpfte, nicht nörgeln würde.

Davon abgesehen bezeichnete dieser Abend nicht nur den Beginn meiner Bekanntschaft mit den Werken des Dichters Inoue, sondern auch den späten Einbruch anhaltend winterlicher Witterung in Deutschland. Und als ich am darauffolgenden Sonnabend mit meinem Sohn nach Föhr übersetzte, konnten wir von Glück sagen, daß noch eine Fähre verkehrte. Auf der grauen See trieben unzählige Eisschollen, Schneeflocken eilten unverwandt gegen die Salonfenster, und wo das Schiff sich auf die geschlossene Eisdecke schob, war es, als ob eine Riesenfaust seinen Bug versetzte. Mein Vermieter hatte nicht zuviel versprochen, als er im Sommer gesagt hatte, der Februar sei die beste Zeit auf der Insel.

Tags unternahmen mein Sohn und ich, dick vermummt, lange Spaziergänge. Wenn ich abends vor dem Kamin saß, durch den Telefonapparat mit meiner früheren Frau und der fernen Geliebten stritt oder dem Mond lauschte, lag das Kind nebenan und knirschte im Schlaf mit den Zähnen. Auf einer unserer Strandwanderungen durch Halden von hüfthohen Eisschollen (hüfthoch aus meiner Sicht, scheitelhoch aus der seinen) hatten wir in einer Nische den schon größtenteils verwesten Kadaver einer Ente entdeckt, den der Frost hier in seinen Bann geschlagen hatte. Ein Bein des Tieres war noch in Reste eines grünen Netzes verstrickt, im brüchigen Käfig des Brustkorbs lag wie ein einsamer Kiesel das schwarze, verdorrte Herz.

Mein Junge konnte sich vom Anblick des toten Geschöpfes nicht lösen, und als er sich schließlich doch einmal losgerissen hatte, kehrte er schon nach wenigen Schritten wieder dorthin zurück. So standen wir lange neben dem Leichnam beisammen, umgeben von den zerschründeten, vom Schlick braun verfärbten Schollen, unter einem weiten, offenen Himmel. Mein Sohn fragte mich nach Leben und Tod, als wüßte ich, wie sonst über alles, auch in diesen Dingen Bescheid. Zwei kleine Tränen standen auf seinen Wangen. Mir aber senkte sich das Bild meines bekümmerten Kindes, wie es am eisigen Grab des Vogels grübelte, tief in die Seele.

Ansonsten las ich dem Jungen täglich aus Walbüchern vor, die er sich im Wyker Buchladen ausgesucht hatte. Ich selbst hatte mir einen ganzen Stapel Literatur mitgenommen, darunter auch einen schmalen Band von Inoue: Das Jagdgewehr. Dieses Buch war am Tag, der auf den langen Abend folgte, als unerwartete Gabe der jungen Kollegin in meinem Büro eingetroffen. Auf die erste Seite hatte sie eine Widmung geschrieben, in der sie den zurückliegenden Abend zu meiner Überraschung als »spannend« bezeichnete. Ich zog es vor, mein Urteil dadurch eher bestätigt als in Frage gestellt zu sehen.

Zu der Zeit hatte ich gerade die Lektüre des Romans Musashi von Eiji Yoshikawa beendet. Auch in diesem Buch stand eine Widmung: von der Hand meiner früheren Frau, die es mir vor elf Jahren zum Weihnachtsfest geschenkt hatte. In gewisser Weise hatte der Roman mir, als ich ihn nach so langer Zeit zum zweiten Mal durchwanderte, den erwünschten Rückblick in die Vergangenheit erlaubt. Denn obwohl sich mir beim ersten Lesen viele Einzelheiten der Handlung eingeprägt hatten, las ich das Buch nun wie mit anderen Augen. Im Lauf der Jahre hatte ich offenbar Erkenntnisse gewonnen, die einigen des Verfassers ähnelten; deshalb entdeckte ich nun in dem Roman manches, was mir vorher verborgen oder unerklärlich gewesen war, und zugleich konnte ich mir meine frühere Sicht ins Gedächtnis rufen. Doch ebenso wie vor gut einem Jahrzehnt fühlte ich mich von den Schlußsätzen Yoshikawas angerührt, in denen er Wollen und Meinen der Menschen mit dem Rauschen der Wogen vergleicht:

»… doch wer kennt die Seele des Meeres, hundert Fuß unten? Wer kennt seine Tiefe?«

Für die Tage auf Föhr hatte ich mir den Shogun von James Clavell vorgenommen, denn dieses Buch behandelt dieselbe japanische Epoche und wendet sich, ähnlich wie Yoshikawas Werk und mit dem gleichen Erfolg, an ein breites Publikum, wenn auch an eines mit westlichem Geschmack. Zu dem Vergleich hatten mich unter anderem Bemerkungen eines Japankenners über die − sehr verschiedenen − Liebesgeschichten in beiden Romanen angeregt. Aber gleichzeitig dürstete mich nach mehr japanischer Literatur, und so fügte es sich gut, daß ich in meinem Gepäck das Büchlein von Inoue hatte. Es ist eine Novelle, keine hundert Seiten lang. Sie gibt zum wesentlichen drei Briefe wieder, die an denselben Mann gerichtet sind, die Briefe stammen von seiner Ehefrau, von seiner Geliebten und von deren Tochter. Nach dem Jagdgewehr las ich alle Bücher von Inoue, deren ich habhaft werden konnte, leider ist bisher nur eine Handvoll ins Deutsche übertragen worden.

Ich verspüre die Neigung zu sagen, daß ich in Inoues Schriften Antworten auf viele Fragen fand, die mich damals beschäftigten. Aber in Wahrheit war es wohl so, daß Inoues Texte mir im Umgang mit diesen Fragen halfen, indem sie einen stillen Einfluß auf meine Sicht der Dinge entfalteten, darunter auch bei jenem Thema, das, wie Sie, mein umworbener Leser, bereits wissen, Gegenstand dieses Essays ist: die Selbstdarstellung des Autors in seinem Text. Sie werden einwenden, daß alles, was ich seither dazu geschrieben habe, nicht als Essay gelten kann, sondern allenfalls als irgend etwas anderes. Und ich widerspreche nicht. Denn ehrlich gesagt kann ich überhaupt keine Essays schreiben. Ein einziges Mal habe ich unter Qualen einen verfaßt, er erschien 1989 in der Tiefdruckbeilage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und trug mir, wie ich wohl sagen darf, eine gewisse Anerkennung ein, vielleicht haben Sie ihn gelesen. Damals hat niemand bestritten, daß es sich um einen Essay handele. Aber ich als sein Verfasser muß es besser wissen: Ich hatte mich seinerzeit nur als Essayist ausgegeben, indem ich meinen Text nach besten Kräften einem Essay anverwandelte. Er war aber keiner.

Was Inoue anbetraf, so nahm die Lektüre seiner Bücher allerdings mehr Zeit in Anspruch als die zwölf Tage, die ich mit meinem Sohn auf der eingeschneiten Nordseeinsel verbrachte. Inzwischen war es Frühling geworden, und ich dachte nicht mehr an den langen Abend mit der jungen Kollegin, die ich längst aus den Augen verloren hatte und deren Lebensweg den meinen überhaupt nur an diesem einen Wintertag gekreuzt hatte. Daß sie es war, der ich die Bekanntschaft mit einem Dichter verdankte, der mir so viel bedeutete wie seit Jahren kein zweiter, wäre mir wohl nicht mehr eingefallen. Doch als ich eines Tages Das Jagdgewehr wieder zur Hand nahm, fiel mein Blick auf die Widmung darin.

Ich hatte den Abend in der Sushibar gerade so im Gedächtnis, wie ich es dargestellt habe; nun kam mir das alles überaus sonderbar vor. Wie war es zugegangen, daß ein Mensch, der meine Gedanken weder teilte noch auch nur verstanden zu haben schien, mich ausgerechnet zu einem Dichter geführt hatte, der so viele meiner Sehnsüchte stillte? Ich erinnerte mich noch, daß die Kollegin mich zum Beispiel im Hinblick auf meinen Vater in einer geradezu lächerlichen Weise zu belehren versucht hatte. Auch sonst hatte ich ihre Denkungsart als durch und durch anmaßend empfunden. Nachdem ich Inoue nun kannte, schien mir unerklärlich, was diese Frau einem solchen Autor abgewinnen konnte. Warum hatte sie mir das Buch überhaupt anempfohlen? Gewiß hatten wir uns, was ja nahelag, beim Essen auch über Japan unterhalten, und in diesem Zusammenhang hatte sie vermutlich das Jagdgewehr erwähnt. Dann fiel es mir wieder ein; das Buch hatte ein Beweisstück sein sollen.

Es ging um das Geheimnis der Frauen. Daß ich es bereits gelüftet hatte, hatte ich wohlweislich für mich behalten. Mein unausgesprochener Kerngedanke lautete: Frauen sind anders. Ich gebe zu, daß er, so niedergeschrieben, nicht übermäßig neu klingt. Für Außenstehende mag es sogar den Anschein haben, als hätte ich hier nicht die Lösung benannt, sondern wieder nur das Geheimnis. Doch für mich haftete meiner Erkenntnis etwas Umwälzendes an. Nachdem ich sie einmal bis ins Letzte durchdacht hatte, befand ich mich in jener Gemütsverfassung, in der man anderen seine Einsichten nicht zum Fraß vorwirft, sondern Nahrung für sie sucht. Ich fand sie auch überall, etwa in einem an die dreitausend Jahre alten chinesischen Gedicht, in dem es heißt: »Der kluge Mann erbaut die Mauer / Das kluge Weib zerstört die Mauer.«

Es wäre widersinnig gewesen, die Weisheit, die dieser Vers aus dem Shijing zum Ausdruck bringt, nun ausgerechnet einer Frau vorzutragen − und schon gar der jungen Kollegin, die überzeugt war, der ganze Unterschied zwischen den Geschlechtern beschränke sich darauf, daß Frauen »sensibel« seien und Männer nicht. Nicht zuletzt um diese ihre Theorie hatte sich unser träges Gespräch gewälzt. Zwischendurch hatte die Kollegin meinen Blick auf das Geschehen am Nebentisch gelenkt, wo eine Gruppe von Japanern speiste. Einer von ihnen, ein kleiner Mann von Mitte Sechzig, schien eine wichtige Persönlichkeit zu sein, denn alle Aufmerksamkeit der Jüngeren galt ihm, indes er selbst sich fast ausschließlich mit den Speisen beschäftigte, die nacheinander aufgetragen wurden. Aus den Gesprächen, die um ihn herum geführt wurden, schnappte er offenbar nur ab und zu einen Satz auf, der sein Interesse weckte; dann − und nur dann − drehte er den Kopf leicht in die Richtung, aus der der Satz gekommen war. Doch seine Aufmerksamkeit war nie von langer Dauer, und bald senkte er den Blick wieder auf seinen Teller.

Ich weiß nicht, wie es zuging − ob meine Begleiterin und ich plötzlich japanisch verstanden oder ob, was noch unwahrscheinlicher ist, die Japaner am Nebentisch deutsch sprachen, oder ob schließlich, was mir als das Nächstliegende erscheint, die Situation eine hyperkulturelle Qualität hatte, so daß einfach jeder verstehen mußte, was sich dort abspielte. Während des Essens wurde nämlich der kleine Mann von seiner Frau, die neben ihm saß, mit Ratschlägen überhäuft, wie: »Iß davon nur die Hälfte!« oder »Das ist sauer, willst du nicht lieber darauf verzichten?« − »Du hast recht, ich werde nur die Hälfte essen; ich werde lieber gar nichts davon essen«, murmelte er dann gefügig mit leiser Stimme, wie um sich zur Vernunft zu rufen; dann wieder verkündete er von Zeit zu Zeit wie im Selbstgespräch: »Delikat! Ich eß es doch!«, und schließlich aß er wohl jedesmal alles auf, was er auf dem Teller hatte.

Meine Begleiterin entdeckte im Verhalten des Herrn Tanizaki − denn das war, wie ich später in Erfahrung brachte, sein Name − eine unerhörte Dickfelligkeit, einen typisch männlichen Mangel an »Sensibilität« gegenüber dem liebenden Bemühen seiner Gattin, die nur der Sorge um Herrn Tanizakis Gesundheit lebte. Muß ich wirklich ausführen, daß sich mir dieselbe Sache in ganz anderem Licht zeigte? Nein, denn mir geht es hier allein darum, daß im Laufe eben dieser Auseinandersetzung die junge Kollegin die Novelle von Inoue erwähnt hatte: Dieses Buch behandele exakt unser Thema, es stelle auf das Eindrucksvollste und unwiderleglich dar, wie Frauen an der Unnahbarkeit von Männern zerbrächen.

Natürlich beschreibt die Novelle in Wirklichkeit allenfalls die Wunschvorstellung bestimmter Frauen, an der Unnahbarkeit eines bestimmten Mannes mehr oder weniger zu zerbrechen. Über ihn selbst erfährt man sehr wenig, und das wenige fast ausschließlich aus dem Urteil jener Frauen. Da die drei jedoch in ihren Briefen auch übereinander urteilen und eine jede von ihnen sich dabei dramatisch täuscht, schien es mir unwahrscheinlich, daß die Frauen nun ausgerechnet das Wesen jenes Mannes richtig erfaßt haben sollten. Schon deshalb konnte ich, nachdem mir wieder eingefallen war, daß das Buch zum Beleg einer Annahme dienen sollte, es nicht als einen solchen gelten lassen − ganz davon abgesehen, daß die junge Kollegin den Umstand völlig vernachlässigt hatte, daß der Schöpfer des Buches und somit auch der darin enthaltenen Frauenbriefe ein Mann war. So betrachtet verdankte ich die Bekanntschaft mit der Novelle und ihrem Verfasser letztlich einem belustigenden Mißverständnis. Und dennoch gab ich der jungen Kollegin in einem ganz und gar recht: Es handelte sich um das Werk eines ungemein feinfühligen und, wie ich wohl hinzufügen darf, gütigen Meisters.

Oft habe ich in den Monaten danach versucht, der Persönlichkeit Inoues in seinen Büchern wie einem Schemen nachzuspüren. Und schließlich löste sich mir auch dieses Geheimnis − Sie werden es schon bemerkt haben. In jener Zeit, während die Eisschollen schmolzen, schichtete sich auch mein Leben sonderbar um. Auf unerklärliche Weise war die Gewohnheit des Nörgelns von meiner Frau abgefallen und auf meine ferne Geliebte übergesprungen. Und irgendwann im folgenden Sommer, ich wohnte schon lange wieder zu Hause, hörte dann auch mein Sohn auf, im Schlaf mit den Zähnen zu knirschen. War alles nur ein Traum? Ach, lieber Leser, Sie können es mir gewiß nicht sagen.

 

© Volker Zastrow, 1998

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