Sarah Khan

Gläserrücken mit der Stasi

Sarah Khan

Gläserrücken mit der Stasi

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Sie ist die Frau aus der Nachbarschaft, man trifft sie im Supermarkt, in der Schlange der Postfiliale. Sie ist wie Montag, wenn sie das Kind bringt, wie Dienstag, wenn sie in der Schwimmhalle ihre Bahnen zieht, wie Mittwoch, wenn sie das Kind holt, wie Donnerstag, wenn sie einkauft, und wie Freitag, wenn sie mit einem Kuchenpaket vom Konditor kommt. Wie von Schnüren gezogen kreuzen Stadtteil-Nachbarinnen ihre Stadtteil-Nachbarinnen, bis in alle Ewigkeit hätte es so bleiben können, bis es anders kommt und die Malerin Uta Päffgen bei der Vernissage von Cindy Sherman in der Galerie Sprüth Magers Berlin sagt: Gespenster suchst du? Dann frag Anne, die Frau kann Gespenster rufen, die hat einen unglaublichen Draht mit ihrer Methode. Und so verabredet man sich mit einer unbekannten Anne, sie öffnet und man steht vor niemand anderem als besagter Stadtteil-Nachbarin. Diese langen dunkelroten Haare, der brutal amüsierte Blick, das große Herz auf weiter Brust und der Duft der Kaffeetafel hinter ihrem Rücken aufsteigend. Diese Geschichte ist ein Geschenk der Schriftstellerin Anne Hahn, der Rotweinhexe von Mitte, der Burgfrau von Goseck, dem Magdeburger Medium. Danke.

 

Eine übersinnlich veranlagte Frau bemerkt ihre Fähigkeiten schon früh in der Jugend und spielt damit herum. Eines Tages ist es dann so weit, sie bekommt eine höllische Angst und beschließt, den Unfug für immer sein zu lassen. Und doch ruft sie die Geister immer wieder, denn sie kann es nicht lassen. Anne wurde 1966 in Magdeburg geboren. Als Anne zweiundzwanzig Jahre alt war und von allem tödlich gelangweilt, beschloss sie aus dem Land zu fliehen. Sie wusste ja nicht, dass die Tage der DDR gezählt waren, denn sie hatte die Geister fast nie nach ihrer eigenen Zukunft befragt. Das war zu heikel. Sie war auch nicht die Einzige in ihrem Freundeskreis, die sich mit Fluchtgedanken beschäftigte. Andere hatten Ausreiseanträge laufen und Angst vor schlechten Nachrichten. Auch musste immer mit Spitzeln gerechnet werden. Stell dir vor, der Geist sagt beim Gläserrücken in großer Runde, die Anne H. wird nächste Woche einen erfolgreichen Fluchtversuch hinlegen. Deshalb ging das nicht, den Blick in die eigene Zukunft zu wagen. Anne und ihre Freunde aber waren von den ausgefeilten, wundersamen Geschichten der Geister fasziniert. Einmal war ein Geist da, der Bertolt Brecht gekannt hatte, und ein andermal ein Kind, das immer auf dem rechten Knie vom lieben Gott saß. Das war unterhaltsam und lustig. Während die Realität und die nahe Zukunft für die jungen DDR-Bürger beides nicht war, weder unterhaltsam noch lustig. So also kam es, dass Anne die Geister nicht nach ihrem eigenen Schicksal befragte, sonst hätte sie sich die Flucht, die Festnahme und den DDR-Knast vielleicht erspart.

 

Anne hatte damals in Magdeburg keinen Job, aber sie hatte Freunde. Die Freunde hatten Rotwein und der Rotwein hatte eine Kerze und die Kerze hatte ein Glas. Sie bildeten eine Runde, drehten das Glas um und stellten es in ihre Mitte auf einen Tisch. Dann legten sie ganz viele Zettel um das Glas: die Worte »ja« und »nein« und alle Buchstaben des Alphabets und die Zahlen eins bis hundert, jeweils in Zehnerschritten angeordnet. Jeder legte sachte einen Finger auf das Glas, dann begannen sie. Und wie toll es kribbelte, zuckelte und ruckelte, sobald Anne die Geister rief. Dann tanzte das Glas.

Einmal hatten sie sofort jemanden drin, der sagte: SOS, SOS, SOS.

»Wer braucht SOS?«

Sie bekommen eine Zahl, noch eine Zahl, immer wieder die gleichen Zahlen. Jemand holt einen Atlas, überprüft die Zahlen an den Längen- und Breitengraden. Es war ein Punkt im Südatlantik. Die Rotwein trinkende Gläserrücker-Clique aus der Endphase der DDR in Magdeburg hörte am nächsten Tag in den Nachrichten, dass vor der Küste der Falklandinseln ein Schiff sank und die ganze Besatzung ertrank.

Einmal riefen sie einen Geist und nichts geschah. Dann klopfte es an der Tür. Einer stand auf und öffnete, es war niemand zu sehen und doch trat jemand ein. Alle saßen kreisförmig im Schneidersitz auf hauchdünnen, alten, schiefen Dielen, und sie merkten, wie sich die Dielen unter dem Tritt des unsichtbaren, aber gewichtigen Gastes hoben und senkten, und sie hörten das Holz knarzen. Der Gast umrundete die Magdeburger mehrmals, jagte ihnen einen Höllenschrecken ein, dann ging er wieder. Alle wussten, dass es Anne war, die diese Kraft hatte, einen so dreisten Geist zu provozieren. Ohne Anne klappte es nie, und mit Anne war es immer wunderbar und schrecklich. Aber nach dieser Erfahrung schwor Anne, damit aufzuhören. Geisterbesuch in der eigenen Wohnung sei viel zu heftig, und man solle überhaupt keine Geister mehr rufen, denn man wisse ja nie, wer da komme und was er mitbringe. Sie habe endgültig verstanden, sie könne zwar anlocken, aber nicht kontrollieren. Also abgemachte Sache, nie wieder Geisterbeschwörung. Aber dann passierte die Geschichte mit der komischen Frau, die wie Anne auf dem Flohmarkt Klamotten verkaufte und sich an sie ranschmiss. So überfreundlich, so künstlich, so außerordentlich verdächtig lud sie Anne und ihre Clique zu sich nach Hause ein. Da konnte Anne nicht anders, wollte unbedingt ihre Muskeln zeigen, nahm ihre Freunde und eine Flasche Wein und schlug bei der Komischen auf. Die Komische wollte sich über den überraschenden Besuch freuen, da unterbrach man ihren Redefluss und sagte: Räum mal deinen Tisch ab, den brauchen wir jetzt. Das Glas kam umgedreht in die Mitte, das Alphabet und die Zahlen drum herum, sie hatten alles mitgebracht. Jeder legte sachte einen Finger auf das Glas. Die Komische wollte nicht mitmachen, sie bekam furchtbar Gruselschiss, aber man sagte ihr, sie solle nicht so langweilig sein. Anne rief die Geister. Und schon hatte sie einen Geist im Glas. Zunächst fragten sie ihn der Reihe nach belangloses Zeug.

»Großer Geist, willst du mit uns reden?«

»Ja.«

»Bist du ein guter Geist?«

»Ja.«

»Ist es schön da, wo du bist?«

»Kalt.«

»Wie heißt du?«

»Ludwig Brenndecker.«

»Seit wann bist du tot?«

»1952.«

»Wie alt warst du, als du starbst?«

»57.«

»Was warst du von Beruf?«

»Krüppel.«

Kaum fängt die Komische zu kichern an, kommt Anne auf ihr eigentliches Anliegen zu sprechen.

»Ist hier jemand im Raum, der für die Stasi arbeitet?«

»Ja.«

»Ist der Raum verwanzt?«

»Ja.«

»Kannst du mir zeigen, wo?«

»Ja.«

»Wenn ich in die Ecke gehe, wo die Wanze ist, sag ja.« Anne steht auf und schreitet den Raum ab. Als sie in der Ecke mit der Vitrine steht, meldet sich der Geist wieder:

»Ja!«

Auf der Vitrine steht ein Radio. Anne fasst nach dem Radio und schüttelt es.

»Hier drin?«

»Ja.«

Anne setzt sich wieder an den Tisch. Die Komische ist leichenblass. »Raus aus meiner Wohnung!«, schreit sie. »Aber sofort!«

Aber sie gehen nicht, machen weiter.

»Weißt du die Telefonnummer der Leute, die uns gerade belauschen?«

»Ja.«

»Kannst du mir die geben?«

Die Nummer, die der Geist ihnen gibt, ist fünfstellig und beginnt mit einer Drei. Die Dreier-Nummern waren die Stasi-Nummern in Magdeburg. Welch ein Triumph für Anne. Sie hatte Fähigkeiten, auf die die DDR nicht vorbereitet war. Welch ein Jubel. So glaubte sie, obwohl der Tod ein Gedanke blieb, die Flucht würde ihr gelingen. Ein anderes Leben wartete auf sie, eines ohne Gitter. Sie musste nur aufbrechen.

 

Vor der Flucht unternahm Anne zwei Reisen. Die eine führte sie nach Prag zum Grab von Franz Kafka, und die andere nach Schloss Goseck in Thüringen. Dort wollte sie ein letztes Mal mit Freunden zusammen sein. Sie wollten wandern, trinken, lachen. Seit Jahren schon nahm sie Abschied in einer qualvoll langsamen, bedrückenden Entwicklung, ohne sich mitteilen zu können. Der Abschied in Goseck sollte anders sein, Kraft spenden. Jetzt ist das Schloss Goseck saniert, eine denkmalgerechte Toilettenanlage wurde eingebaut, es gibt einen Tango-Frühling, archäologische Ausgrabungen und Konzerte. Aber damals in den 1980er Jahren der DDR war das Burgschloss halb verrottet und der nagenden Zeit überlassen. Der größte Teil des Schlosses war verschlossen und verstaubt und lag da wie im Dornröschenschlaf. Eine kleine Jugendherberge gab es in einem Seitenflügel, dort wohnte Anne mit ihren Freunden. Die Ausstattung dieser Herberge ist Anne als trostlos in Erinnerung. Teppichbelag, Leichtmöbel und abwischbare Plaste-Oberflächen, ohne jedes Schlossgefühl. Einmal machte die Gruppe heimlich eine Runde durch den abgesperrten Teil. Die meisten Zimmer waren verschlossen, aber mit einem Dietrich und etwas Gefummel bekamen sie die Türen auf. Anne machte sich ein Spiel daraus. Bevor sie eine Tür öffnete, beschrieb sie das Zimmer dahinter. Vor der verschlossenen Tür stehend zählte sie auf: Links der Kamin, das Eisen liegt auf dem Sims und der Knauf ist angeschlagen, das Fenster ist grün, in der Mitte steht eine Säule. Oder: Ein dunkler langer Raum, am Ende rechts ein winziges Fenster, ein großer Tisch in der Mitte, ein gusseiserner Kerzenleuchter hängt tief darüber. Und jedes Mal bestätigten sich Annes Beschreibungen. Als kenne sie diese toten Zimmer mit den zerschlissenen Vorhängen und schmutzigen Türbeschlägen, mit den fauligen Möbeln und eingetrübten Tapeten ganz genau. Einmal fanden sie auf ihren Streifzügen eine Flasche Rotwein ohne Etikett in einer Schutthalde. Die Flasche war mit dickem Staub belegt und ihr Glas und Korken war von so besonderer Beschaffenheit, als käme sie aus uralter Zeit. Vielleicht sechzig, vielleicht hundert Jahre konnte die Flasche alt sein. Die Freunde öffneten die Flasche, aber keiner traute sich den Wein zu kosten. Schließlich probierte Anne. Der Wein schmeckte ihr so gut, dass sie die ganze Flasche austrank. Dann legte sie sich in der Jugendherberge ins Bett. In dieser Nacht träumte sie, durch Schloss Goseck zu gehen. Sie solle, so lautete der Befehl, zur Kapelle von Schloss Goseck kommen. Auf dem Weg dorthin konnte sie Wände durchschreiten. Körperteile durch dicke Mauern stecken, den Kopf, einen Arm, ein Bein. Das machte Spaß. Plötzlich kam sie nicht weiter. Der Traum endete. Am nächsten Tag erfuhr Anne, dass in der Nacht auf Schloss Goseck eine alte Frau gestorben war, die ein lebenslanges Wohnrecht gehabt hatte. Die schrullige Alte, so erzählte man es, sei eine Adelige gewesen, eine Gräfin, deren Familie diese Burg lange Zeiten bewohnt hatte. Diese Geschichte aber vollendete sich erst ein halbes Jahr später, im Mai 1989. Anne saß in einer Zelle im Gefängnis Hohenschönhausen, denn die Flucht war ihr ja misslungen. In dieser Zelle ging der Traum plötzlich weiter. Sie stand wieder an der Stelle im Schloss, wo es zur Kapelle ging, wo sie damals nicht weiterkam. Nun sieht sie auch die Landschaft, dazu einen Bernhardinerhund und sich selbst in einem weißen Kleid mit einem kleinen Jungen an ihrer Seite, der etwa fünf Jahre alt ist. Sie weiß plötzlich, dass diese Frau und dieses Kind getötet wurden, vom eigenen Ehemann. Er war jahrelang auf Kreuzzug gewesen und sie war nicht keusch geblieben. Das Kind wird wegen der Schande getötet und vor dem Altar begraben, die Frau wird lebendig eingemauert. Aber was hat das mit der alten Gräfin zu tun?, fragt sie im Traum, und sie bekommt sogar eine Antwort: »Die alte Frau auf Schloss Goseck war die Letzte ihres Blutes und konnte erst sterben, als du kamst.« – Das war ich selbst, dachte Anne, als sie wieder in ihrer Zelle in Hohenschönhausen aufwachte. Das war mein früheres Leben. Das hat mit mir heute überhaupt nichts mehr zu tun.

 

Als sie aus dem Knast rauskam und die DDR aufhörte ein verschlossenes Land zu sein, fuhr sie ans Mittelmeer und brachte von dort einen Stein mit. Damit fuhr sie zum zweiten Mal in ihrem Leben zum Grab von Franz Kafka, nach Prag. Sie legte den Stein auf das Grab und entschuldigte sich ausgiebig bei ihm dafür, im Jahr vorher einen kleinen Stein dort entwendet zu haben. Sie erklärte ihm, wieso sie das getan hatte. Sie wollte den Stein, der damals ganz oben auf dem Grabstein lag, als Glücksbringer mitnehmen, für ihre Flucht und für alles, was an Gefahren auf sie zukam. Sie sagte, sie habe einen Teil von ihm besitzen wollen, sie verehrte ihn doch so sehr, aber sie habe nicht bedacht, dass jemand anderes den Stein ihm dargebracht hatte. Sie hätte seither auch nur Pech erlebt, ein ganzes Jahr nur Strafe und Unglück. Und wenn die DDR nicht zusammengebrochen wäre, würde sie immer noch schmoren. Deshalb, sagte sie ihm, bringe sie ihm den Stein zurück. Es sei zwar nicht der Stein von damals, den habe sie in den Wirren des Jahres verloren, aber es sei ein schöner Stein vom Mittelmeer, und er möge so lieb sein, ihn anzunehmen, die Entschuldigung zu akzeptieren und ihr vergeben.

 

Anne zog nach Berlin, studierte Kunstgeschichte, jobbte als Briefsortiererin und war eine Weile lang so was wie die Ehrenvorsitzende am Tresen der Kneipe Kommandantur. Einmal hörte sie noch von Schloss Goseck. Zwei Jahre nach dem Traum, also 1991, lernte sie einen jungen Mann kennen, der kam aus Weißenfels, einem Nachbarort von Goseck. Annes Freunde erzählten ihm von den gruseligen Vorgängen auf dem Schloss und von Annes Traum, in dem ihr eine Frau und ein Kind erschienen waren, in der Nacht, als die alte Gräfin starb. Und dass Anne seither felsenfest behauptet, dass ein Kind vor dem Altar der Schlosskapelle Goseck beerdigt worden sei. Der junge Mann wurde kreideweiß und erzählte, dass man in der Schlosskapelle eine weiße Marmorplatte gefunden habe, unter der ein Kinderskelett lag.

»Das war mein Kind«, sagte Anne, »zur Zeit der Kreuzzüge. Dieses Kind habe ich geführt.«

 

In Berlin hörte das mit dem Gläserrücken und den Geisterwahrnehmungen fast auf, was natürlich sonderbar ist, denn Berlin ist voller Gespenster, und diese haben keinen Grund, Anne auszuweichen. Hin und wieder stellte sich ihr noch ein Geist zur Seite, aber sie merkte das manchmal gar nicht. Einmal hielt sie ein Gespenst für den dunkel gekleideten Mitbewohner. Er kam leise herein und schaute ihr über die Schulter und las den Text, den sie am Schreibtisch verfasste, interessiert mit. Sie unterhielt sich mit ihm. Eine sehr einseitige Unterhaltung, er antwortete nicht. Als sie sich umdrehte, war da niemand. Als wäre der Mann nie da gewesen.

 

Ende der 1990er Jahre lebte Anne für einige Jahre in einer heruntergekommenen Wohnung in der Invalidenstraße 104, schräg gegenüber vom Naturhistorischen Museum. Später gab ihr der Eigentümer des Hauses viel Geld, damit sie auszog und das Haus saniert werden konnte. Es war Teil einer hufeisenförmigen Wohnanlage, gebaut zur Gründerzeit, in unmittelbarer Nähe zur Charité und diversen Militäreinrichtungen. Theodor Fontanes Novelle Stine spielt zu jener Zeit – um 1890 – genau in diesem Abschnitt der insgesamt drei Kilometer langen Invalidenstraße. Dass Fontane für seine Stine gerade die Invalidenstraße auswählte, war kein Zufall. An dieser Straße mit ihren unterschiedlichsten Gebäuden und Institutionen bildete sich die Gründerzeit besonders eifrig ab, die Invalidenstraße war Blut, Schweiß, Dreck und Geschwindigkeit: Drei Fernbahnhöfe (Lehrter, Stettiner und Hamburger Bahnhof), Maschinenbaufabriken, Exerzierplätze, Kasernen, das Invalidenhaus, ferner ein Gefängnis und die Charité; dazu kamen etliche Wohnhäuser und Kirchhöfe. Fontane schilderte das sozial heikle Leben der Schwestern Ernestine Rehbein und Pauline Pittelkow in der Invalidenstraße 98 e zwischen Liebeständel und Eheversprechen, zwischen Hoffnungen auf einen sozialen Aufstieg und Liebesglück zugleich. Die kleinmütige Ständegesellschaft lässt alle Träume misslingen, und nur der Tod triumphiert.

 

Stine sah die Schwester an.

»Ja, du siehst mich an, Kind. Du denkst wunder, wie du mich beruhigst, wenn du sagst: ›Es is keine Liebschaft.‹ Ach, meine liebe Stine, damit beruhigst du mich gar nich; konträr im Gegenteil. Liebschaft, Liebschaft. Jott, Liebschaft is lange nicht das schlimmste. Heut’ is sie noch, un morgen is sie nich mehr, un er geht dahin, und sie geht dahin, un den dritten Tag singen sie wieder alle beide: ›Geh du nur hin, ich hab’ mein Teil.‹ Ach, Stine, Liebschaft! Glaube mir, daran stirbt keiner, un auch nich mal, wenn’s schlimm geht. Nein, nein, Stine, Liebschaft is nich viel, Liebschaft is eigentlich gar nichts. Aber wenn’s hier sitzt (und sie wies aufs Herz), dann wird es was, dann wird es eklig.«

 

In jenem Haus 104 fing Anne wieder mit dem Gläserrücken an. Es war spätnachts und sie waren zu fünft und es war alles vorher geplant. Ein Freund brachte einen ganz großen Wein mit, den ungewöhnlichsten und delikatesten Tropfen, den Anne je getrunken, später schrieb sie eine Kurzgeschichte über ihn, den Wein. Die Sitzung begann wie immer: »Großer Geist, wir rufen dich.« Im Glas erschien eine junge Frau, die mit nur dreiundzwanzig Jahren an Tuberkulose gestorben war. Sie antwortete auf die Fragen »Wo bist du?« und »Woher kommst du?«: »Ich bin auf dem Hof« und »Ich bin auf dem Hof begraben«. Dass hinter dem Hufeisen-Haus einst der Armenfriedhof der Charité war, wo man ohne viel Aufwand die verstorbenen Patienten, Seuchen- und Hepatitis-C-Opfer beerdigte, hatte Anne von Nachbarn gerüchteweise gehört. In diesen Gerüchten und Gesprächen ging es vor allem um die Ratten, die vom alten Charité-Campus herkamen und die es sich nicht nehmen ließen, den Keller zu erobern und die Tonnen zu durchwühlen. Nach ihren Raubzügen zogen sie sich durch ihre Tunnel wieder in den Krankenhauspark zurück. Da also war der Geist hergekommen? Auf die Frage »Was hast du?« antwortete der Geist der jungen Frau »Hass« und »Wut«. Bei den nächsten Fragen kam das Wort »Oficier«, genau so geschrieben, mit einem f und einem c. Im Laufe der Sitzung setzte sich die Geschichte zusammen: Der Geist im Glas war das Dienstmädchen eines »Oficiers«, der mit seiner Gattin einst in Annes Wohnung gelebt hatte. Das Mädchen schlief in der winzigen Kammer zum Hof. Sie war auch die Geliebte des Offiziers und richtig verknallt. Doch als sie an Tuberkulose erkrankte, scherte das den Mann wenig. Sie wurde auf dem Armenfriedhof der Charité begraben, nicht weit vom Wohnhaus entfernt. Der Mann aber führte ungetrübt sein Leben fort, nur sie allein war um alles Schöne betrogen. Deshalb die Wut. Nachdem die Freunde dies gehört hatten, beschlossen sie, etwas zu unternehmen. Die junge Frau tat ihnen natürlich wahnsinnig leid, eine aus der Runde heulte vor Ergriffenheit. Anne aber wollte vor allem die unbändige Wut aus der Wohnung kriegen. Sie öffnete eine weitere Flasche des außerordentlichen Rotweins und hielt eine Rede auf die junge Frau. Sie sprach über das kurze Leben, das der Armen nur vergönnt war, und über die denkwürdig schlechten Erfahrungen, die sie mit dem gefühllosen Mann gemacht hatte. Mit einer Schweigeminute gedachten sie ihres herben Schicksals und wünschten der Herzwunden nichts weniger, als ewigen Frieden zu finden. Dann war Ruhe im Glas. – Ja, auch dies ist ein ergreifendes Frauenschicksal aus der Invalidenstraße, zwar nicht von Fontane, aber immerhin aus dem Reich der Geister. Die Gespenster-Reporterin kann es natürlich nicht dabei belassen und schaut in den alten Stadtplänen der Jahrhundertwende nach. Hier findet sich tatsächlich der Alte Charité Friedhof, der genau hinter dem Haus 104 verlief. Er führte entlang der Hessischen Straße bis zum Waschhaus des Krankenhauses. Es gibt kaum noch Informationen über diesen kleinen Friedhof, nicht einmal die auf solche Fragen spezialisierte Mitarbeiterin der Charité, Frau Beer, die historische Geländeführungen anbietet, weiß etwas darüber. »Ich müsste sehr tief tauchen«, sagt sie. »Ich müsste sehr tief tauchen.« Den Friedhof gab es ab 1726. Heute steht auf seinem Platz die neue gläserne Mensa Nord und das Seminar für ländliche Entwicklung. Den urigen Mauern, wilden Efeubeeten mit ihren dunklen Hundertmeter-Ranken wäre zuzutrauen, dass sie Überbleibsel des Friedhofes sind. Aber vor Ort will nichts an die Begräbnisstätte für Arme und Kranke erinnern, nur alte Karten, Geisterdienstmädchen und Gerüchte unter den von Ratten geplagten Anwohnern tun es noch. Und was den »Oficier« angeht: In Haus 104 lebte tatsächlich ein Militärangehöriger, das geht aus den Berliner Adressbüchern hervor, speziell aus dem »Verzeichniß sämmtlicher Häuser Berlins mit Angabe derer Eigenthümer und Miether«. Ab 1893 lebte ein gewisser Müller dort, der in allen Adressbüchern der Folgejahre abwechselnd als Feldwebel und Lieutenant verzeichnet ist, und ab 1904 als »Lieutenant a. D.«; danach taucht er gar nicht mehr auf. Im Heer des Deutschen Kaiserreichs galten die »Feldwebellieutenants« als Offiziere bzw. Subalternoffiziere und konnten entsprechende Rangabzeichen und Begriffe in Anspruch nehmen. Ob dieser Feldwebel Müller nun der besagte Liebesschurke war, und ob er fesch war und ob die Geschichte mit dem lungenkranken Dienstmädchen überhaupt stimmen mag, das kann das Berliner Adressbuch nicht verraten. Diese Episode darf unheimlich bleiben.

 

Bevor wir es dabei bewenden lassen, noch eine allgemeine Überlegung hinsichtlich der besonderen Begabung, die Annes Leben begleitet: In ihrer Jugend in der DDR gab es viel mehr Geister, die sich ihr offenbarten. Sie brachte Kraft und Interesse für deren Geschichten auf. Dieses Interesse nahm mit zunehmendem Alter ab. Denn auch mit dem Rotwein und den eigenen Kräften muss man irgendwann haushalten. Besonders, wenn ein Kind zu versorgen, ein Mann zu lieben, ein Arbeitsleben zu führen ist. Der Weg der Weisheit, wenn er über den Wein führt, ist ein zu harter. Anne war in Berlin nicht mehr das Medium, das sie in Magdeburg einst war. Der Schrecken der Stasi, die Bezwingerin der Abhörwanzen über Zeit und Raum, das war sie jetzt nicht mehr. Was aber in Berlin geschah: Sie bemerkte, dass Geister und Gespenster von vielen Leuten versorgt werden. Anne trifft ständig Menschen, die von Geisterbegegnungen erzählen können. Wie ihr Nachbar, der Maler. Sie besuchte ihn und ihr war so, als wäre noch jemand in seiner Wohnung, vielleicht waren es Geräusche. Sie sah sich um.

»Ach, jetzt haste auch was gehört?«, sagte der Maler. »Ich habe eine Untermieterin, aber wer weiß, vielleicht ist es nur ein Traum.«

»Erzähl doch mal!«, forderte Anne.

Der Maler war skeptisch. »Es war wohl nur ein Traum.« Dann erzählte er: »Ich lag auf dem Sofa und schlief ein. Eine Frau erschien, sie trug ein Kleid mit Schürze, lange Zöpfe. Wir blickten uns verwundert an. Mir war unwohl, ich wusste nicht, was ich ihr sagen könnte. Dann dachte ich plötzlich: Ich schlafe doch! Ich schloss die Augen und wachte wieder auf.«

Er zeigte Anne ein Bild, das er unmittelbar nach dem Aufwachen gezeichnet hatte. Die Frau trug Schnürstiefel mit Absätzen, sie wirkte klein und ernst und überarbeitet. Eine Frau wie vor hundert Jahren. Seine Untermieterin.

 


 

*This story is taken from: Die Gespenster von Berlin – Wahre Geschichten by Sarah Khan. © Suhrkamp Verlag Berlin 2013.

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