Margarita Iov

Mögliche Pfade

Margarita Iov

Mögliche Pfade

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Ich schreibe: An Veras Mantel fehlt ein Knopf – den hat der Hund geholt. Sie schaut über meine Schulter. Eines Tages wird er auch mich holen, sagt Vera, du wirst schon sehen. Ich sage: Sei nicht albern.

 

Der Hund läuft weit voraus. Wir folgen seiner Spur im feuchten Kies. Nachts hat es geregnet. Der Weg ist zerklüftet von den Hufen der Ziegen. Richtige Straßen gibt es nicht in Ødland. Wir wandern zwischen den Häusern umher, als gäbe es hier etwas zu sehen. Ich schreibe: Nie brennt irgendwo Licht. Ich streiche und schreibe: In den Häusern brennt kein Licht, als wir vorbeigehen. Es kratzt in der Lunge. Die Luft hier sei gut für mich. Bloß jeden Tag einmal das Haus verlassen, dann würde es mir schon besser gehen – so hatten sie es formuliert. Ich hatte es mir noch notiert.

 

Ich schreibe: An den Gestank gewöhnen wir uns nur langsam. Von den Tieren hat man uns nichts gesagt. Vera hat auch den Hund nicht mitnehmen wollen, aber wohin mit ihm? Ich bürste ihn täglich mit angehaltenem Atem, damit er weniger haart. Neben den Ziegen gibt es hier Gänse, Hühner und einige andere Hunde, die wir nie sehen, nur manchmal in der Ferne hören. Ich hasse die Gänse am meisten, sie laufen frei herum und machen einen Heidenlärm. Vera geht ganz nah heran. Und während Vera mit den Gänsen spricht, sehe ich nach dem Hund. Der steht an der Biegung und wartet. Zum ersten Mal sieht er aus wie ein Tier, groß und glänzend, mit ganz anderen Augen.

 

Zurück im Zimmer, schreibe ich alles auf. Die Landschaft, die Luft. Ich muss daran denken, wie mein Vater sagte, mit zunehmendem Alter ertrage er immer weniger Schwachsinn. Genau so hat er es gesagt. Hier steht es.

Während ich meine Tabletten sortiere, sortiert Vera ihre Kleidung für die nächsten Tage.

 

Ich laufe gegen die Steigung des Berges an. Es ist mühsam. Das vertraute Flackern in der Lunge. Ich schreibe auf: Hier und da blüht Mohn am Wegesrand. Auch Vera hat den Mohn bemerkt, sie sagt: Es ist, als weise er den Weg. Aber das stimmt nicht. Der Mohn hat nichts mit uns zu tun, alles wächst hier ganz gleichgültig nebeneinander.

 

Auf dem Rückweg geraten wir in eine Herde, an uns teilt sich der Strom, wir können bloß warten, bis es vorübergeht. Wir stehen ganz dicht nebeneinander, Veras kühle Hand an meiner linken. Sie streicht über die knochigen Leiber: das Fell sei ja ganz hart und glatt. Ich mache mich ganz schmal. Ich grüße den Hirten, er grüßt nicht zurück, er blökt, wir sollen aus dem Weg gehen. Er wohnt gleich nebenan, wir begegnen ihm auf jedem Spaziergang, aber so ist das hier. Seine Frau verlässt das Haus so gut wie nie. Die Kinder grüßen auch nicht, sie sehen sich so ähnlich, dass wir uns immer verzählen. Dasselbe weißblonde Haar. Vera beobachtet die Kinder im Hof durch das Fenster in unserem Zimmer.

 

Ich schreibe: Die Fensterläden klopfen sachte an den Sims. Vor unserer Haustür sortiert der Hausherr das Holz. Es ist nicht viel, aber es ist wahr. Ich rufe aus dem Fenster hinunter, ob ich ihm irgendwie zur Hand gehen könne, er sieht nicht herauf, er schüttelt den Kopf. Im Hof gegenüber steht der Sohn des Hirten am Zaun. Er ist einer der älteren Jungen, er steht auf einen Spaten gestützt und schaut herüber. Ich nicke ihm zu, der Junge geht zurück ins Haus. Wir kommen nicht von hier.

 

Die Nächte sind wie ins Wasser gefallen. Das einzige Geräusch in ganz Ødland kommt nachts aus meiner Lunge. Ich schreibe es auf, ich streiche es durch. Ich schreibe: Einmal hören wir draußen ein Heulen. Das konnte von einem Menschen stammen, aber genauso gut von einem Tier, oder es war der Wind in einem Rohr. Oder, oder! Ich streiche alles durch. Der Hund hebt langsam den Kopf. Seine Konturen verschwimmen in der Dunkelheit des Flures, nur seine Augen leuchten bläulich und stumpf. Ich denke unwillkürlich an das Innere einer Muschel. Vera fragt, ob wir nicht nachsehen sollten, was dort los sei. Aber ich will nicht. Ich will es nicht wissen. Ich will hier einfach nur liegen, mit niemandem sprechen. An nichts denken.

 

Die Dinge hier laufen so, sagt Vera am nächsten Morgen: Die Männer schlagen ihre Frauen, die Frauen die Kinder, die Kinder die Hunde und die Hunde schnappen nach den Ziegen, wenn der Hirte nicht hinsieht. Und niemand schaut nach, niemand stellt irgendwelche Fragen. Und die Ziegen, frage ich, aber Vera ist schon im Bad verschwunden und hört mich nicht mehr. Ich schreibe: Na und die Ziegen rupfen das Gras mit den Wurzeln aus der Erde, sie fressen die Hänge kahl und zertrampeln die Blumen.

 

Dort, wo Ødland aufhört, fängt die sogenannte Wildnis an. So steht es auf einem Schild, darunter ist ein Pfeil, der in Richtung Gipfel zeigt. Auf dem Plateau ist ein letzter Gasthof. Wir machen die Leine des Hundes am Schild fest, er will uns nach, ich drücke seine Flanken auf den Boden und sage: Bleib. Drinnen setze ich mich so, dass ich ihn im Auge habe. Der Wirt steht nicht auf, als wir hereinkommen. Sonst ist niemand zu sehen. Er blättert in einer Zeitung. Ich grüße, er grüßt nicht zurück. Ich frage, ob es etwas zu empfehlen gebe, er sagt, dass es nichts zu empfehlen gebe. Ich frage, ob es denn keine Tagessuppe gebe, er antwortet, dass es keine Tagessuppe gebe und auch sonst keine.

Der Hund draußen steht mit dem Rücken zum Gasthof, er scheint in die Ferne zu sehen, als würde er dort jemanden erkennen, den Körper angespannt bis zu den Ohren, der Schwanz in der Bewegung erstarrt. Als wir zu ihm hinausgehen, bellt er Hallo, als sei nichts gewesen, und vermutlich ist auch nichts gewesen.

 

Ich sitze am Schreibtisch und versuche zu schreiben, aber nichts ergibt Sinn und vielleicht ist es genau so. Ich schiebe den wackligen Tisch von einer Ecke in die andere. Entweder sind die Tischbeine unterschiedlich lang oder der Boden ist uneben. Der Tee schmeckt nach Kalk und ein bisschen salzig. Ich schreibe auf: Nur schreiben, was da ist. Wenn nichts da ist – nicht schreiben. Und dann befällt mich eine große Erschöpfung, als hätte ich weiß Gott was getan. Vera steht hinter mir, ich habe sie nicht kommen hören. Ihre Hände streichen über meinen Nacken. Die Augen des Hundes unter dem Bett. Ich lehne mich vor, sie sagt: Bleib, und drückt meinen Körper zurück gegen die Lehne. Und ich halte still. Ihre Finger sind warm. Vera ist heute streng mit mir. Ich wehre mich nicht, sie zieht an meinem Pullover, sie befiehlt: Zieh das aus. Und ich gehorche.

 

Auf dem Heimweg begegnen wir der Frau des Hirten, sie trägt in jedem Arm einen Plastikeimer mit Getreide. Sie ist allein. Ich schreibe: Sich von dem Gefühl der Ohnmacht nicht außer Gefecht setzen lassen. Ich frage, ob ich ihr helfen könne. Sie bellt, ich solle kein Idiot sein. Ihre Stimme ist schön. Ich schreibe auf: Ich bin ein Idiot. Später im Zimmer verschwindet Vera für eine lange Zeit im Bad. Ich warte, dann gehe ich ans Fenster, wo es manchmal Empfang gibt, und versuche zweimal nacheinander meinen Vater zu erreichen, aber er hebt nicht ab. Vielleicht ist er spazieren gegangen oder er ist in die Stadt gegangen oder er ist verschwunden vom Antlitz der Erde. Ich schalte das Telefon aus und verstecke es tief in der Reisetasche. Ich setze mich an den Schreibtisch, die Stuhlbeine sind alle im Weg. Ich schreibe es auf, ich streiche alles durch. Vera kommt aus dem Bad und fragt, ob alles in Ordnung sei, aber was soll das für eine Ordnung sein?

 

Die Nase des Hundes stößt feucht gegen meine Hand, ich schiebe ihn von mir, aber er lässt nicht ab. Vera schläft fast geräuschlos, ein Fuß berührt die Wand, der andere ist unter der Decke vergraben. Mein Brustkorb fühlt sich an wie ein Hohlkörper, eine Lunge wie morsches Holz. Ich weiß nicht einmal, wovor ich mich fürchte. Ich schreibe: Das Herz ist schon gar kein Herz mehr. Es muss angebunden werden, wie ein Boot, sonst treibt es davon. Ich streiche es durch, ich schreibe: Wie ein Hund. Unter anderem: die Angst vor dem Telefon. Die Befürchtung, es könnte jeden Moment klingeln. Ich könnte nichts tun. Dass Vera fragen würde, warum ich nicht rangehe, dass ich nicht wissen würde, warum ich nicht rangehe.

 

Ich stehe auf und der Hund ist sofort da. Ich drücke seine Flanken zurück auf den Boden, er wehrt sich, ich bin grob. Er solle liegen bleiben. Er murrt, er bleibt liegen. Ich schreibe: Kein Selbstmitleid zulassen. Und: mehr Geduld. Die Treppe ächzt bei jedem Schritt, die untere Etage bewohnt der Hausherr ganz allein, aber er wird nicht wach, zumindest ist nichts zu hören.

Barfuß auf dem kühlen Steinboden. Im Haus gegenüber sitzt jemand auf der Veranda, ich kann nicht erkennen, wer. Für einen Moment denke ich an meinen Vater. Ab und zu glimmt im Dunkeln die Glut einer Zigarette. Ich huste, ich sage: Hallo. Aber niemand antwortet mir.

 

Ich öffne so geräuschlos wie möglich die Tür, aus dem Zimmer dringt ein verhaltenes Knurren. Mein Hund erkennt mich nicht. Ich zwänge mich durch den schmalen Spalt: Ich bin es, ich bin es doch.

 

Ich liege im Bett, auf dem Bauch, das Gesicht zur Seite gedreht. Wenn ich es später aufschreibe, schreibe ich: Völlig betäubt. Ich liege da und höre Vera zu, wie sie umherschleicht. Vera denkt, ich schlafe, aber ich höre ihr zu. Wie sie ins Bad geht und sich leise anzieht. Das Geräusch der Bürste in ihrem Haar. Wie sie sich aufs Fensterbrett lümmelt und eine Weile liest, das Geräusch des Umblätterns. Ich bleibe noch liegen. Ich höre, wie sie aufhört zu schleichen, wie sie anfängt, Kaffee zu kochen, das Geschirr zu spülen. Wie viel Geschirr kann da sein, dass das so lange dauert? Ich grabe meine Stirn tief ins Laken.

 

Vera ist nachlässig gekleidet: Am Hemd hat sie sich verknöpft, das Haar ist im Nacken zusammengeknüllt. Sie sitzt auf dem Fensterbrett und baumelt mit den nackten Beinen. Ich kann es nicht leiden, wenn sie tut, als sei sie fünf. Ich sehe mit Absicht nicht hin. Der Hund hat den schweren Kopf vor sich auf die Pfoten gebettet, die Ohren sind wachsam. Vera hebt ihre Beine aufs Fensterbrett, sie sagt: Er lauert. Ich sage: Er ist ein Hund, er liegt eben herum, was soll er deiner Meinung nach tun?

 

Ich schreibe: Wir laufen gegen den Berg an. Am Gasthof vorbei. Der Wirt sieht uns nach. Oder anders: Wir laufen den Berg hoch, an dem Gasthof vorbei. Im Fenster steht der Wirt. Oder: Es gibt den Berg, den Wirt und uns. Oder auch: Es gibt den Berg, den Wirt und den Hund. Und Vera. Und mich. Im Zimmer streiche ich alles durch, ich schreibe alles auf, was ich sehe, aber es ist immer noch mehr da. Und alles, was dasteht, steht für immer da. Was nicht da steht, verschwindet. Ich schreibe: Es gibt die Landschaft und die Lüge. Das Nebeneinander der Dinge und den Versuch, eine Ordnung zu schaffen. In einer Welt, die zumindest ich nicht verstehe.

 

Es ist fast Mittag. Ich liege im Bett und schreibe: Beim Aufwachen schon dieses Gefühl. Ein Wollen unbestimmter Natur. Ein Sich-losreißen-Wollen. Etwas, das das Herz losmacht. Ich versuche, meinen Vater zu erreichen, aber er geht nicht ran. Ich denke daran, wie er einmal gesagt hat, dass ihm nur eine Sache wirklich wichtig sei: Wenn er sterbe, solle das ja niemandem Umstände machen. Wenn es nach ihm ginge, könnten ihn die Hühner fressen und niemand solle es erfahren. Genau so hat er es gesagt. Hier steht es.

 

Vera ist Milch holen gegangen, im Laden. Ganz selbstverständlich ist sie losgegangen. Ist die Milch alle, wird neue gekauft. Als wäre das nichts. Ich schreibe: Bei mir steht immer alles in Frage, die einfachsten Dinge. Atmen ist ein Problem.

 

Ich laufe gegen die Steigung des Berges an, der Gasthof ist jetzt schon nicht mehr zu sehen. Der Hund zieht und zieht, als wüsste er, wohin. Mein Blick folgt den krummen Linien möglicher Wege, kahle Stellen im Gras, die zu einem Pfad werden könnten. Alles muss schnell noch aufgeschrieben werden, bevor es verschwindet. Nach einer Weile fühlt sich das Laufen an, als würde ich mich gar nicht bewegen. Als würde die Erde unter meinen Füßen davongleiten, ohne mein Zutun. Ich schreibe: Nicht wissen, wo man ankommt, beim Losgehen. Das Boot losmachen. Ich lasse den Hund laufen und er läuft. Die Luft ist ganz klar.

 

Ich schreibe: Vielleicht meiden die Kinder der Nachbarn uns nicht gemeinsam. Sondern jedes meidet uns für sich, jedes aus einem anderen Grund. Vielleicht schnappt der Hirte nach den Ziegen, wenn die Hunde nicht hinsehen. Und die Ziegen? Die fressen das Gras. Und das Gras? Das wächst und wächst, als wäre nichts gewesen. Heute und morgen und auch an jedem anderen Tag, ob wir hinsehen oder nicht.

 


 

*Copyright © Margarita Iov, 2015. 

*Bild: Maxime Sabourin More.

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