Annett Gröschner

Prenzlauer Berg, nachts (Tote Hose)

Annett Gröschner

Prenzlauer Berg, nachts (Tote Hose)

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Diese Nacht, kurz nach eins, ist mir an meiner Straßenecke wieder der Fuchs begegnet. Und wie beim letzten Mal blieb er stehen, drehte seinen Kopf in meine Richtung, und wir schauten uns einen Augenblick lang in die Augen. Die letzen beiden Lebewesen in dieser Stadt. Noch nicht einmal von der nahegelegenen Greifswalder Straße war ein Geräusch zu hören. Der Augenblick kam mir endlos vor. Es war so etwas wie ein stilles Einverständnis zwischen uns. Dann verschwand der Fuchs hinter den geparkten Autos.

Ich weiß nicht, wann mir aufgefallen ist, dass hier nach Mitternacht außer mir niemand mehr auf der Straße ist. Der Prozess muss schleichend abgelaufen sein. Erst verschwanden die Eckkneipen, dann die Bars mit Cocktails für glückliche Stunden, dann wurden die Clubs weggeklagt, die Restaurants verschoben den Küchenschluss auf eine Zeit weit vor Mitternacht, die Spätverkaufsstellen machten zu und die Cafés stellten auf Tagesbetrieb um. Irgendwann gingen auch die Hundebesitzer nicht mehr auf ihre letzte Tagesrunde, weil es nur noch wenige Hundebesitzer gab. Sie fehlten mir, obwohl ich freilaufende Hunde nie mochte.

Anfang des Jahres hat auch meine Stammkneipe zugemacht, der Zufluchtsort der letzten Eingeborenen des Viertels, die sich hier zum Trinken, Rauchen, Reden und Spielen trafen, und um über die Zugezogenen zu lästern, über die Männer, die im fortgeschrittenen Alter noch eine Familie gründeten, mit Frauen, die alle zehn Jahre jünger, aber auch nicht mehr jung waren und die alle irgendwas mit Medien machten.

Am Anfang dachten wir, dass wir mit ihnen schon klarkommen würden, wir hatten hier viele kommen und gehen sehen. Die aber waren anders, unerbittlicher, ohne dass wir genau formulieren konnten, was sie so unerbittlich machte, denn nach außen hin waren sie freundlich, manchmal sogar höflich, aber im nächsten Moment hatte man die Kündigung der Wohnung im Briefkasten und fand einfach keine neue mehr, in den letzten Hundehäufchen steckten kleine Fähnchen mit der Aufforderung, die Straßen sauber zu halten und in den Zeitungen wurden wir, die wir an unserer Gegend wie an einer Heimat hingen, mit Häme bedacht. Wir hatten die Zeichen der Zeit nicht verstanden. Wir sollten uns endlich mal bewegen. Wir seien lange genug hier gewesen. Es gäbe kein Menschenrecht auf eine Wohnung mit Stuck und Dielen. Schlimmer als die Häme war, dass um mich herum einer nach dem anderen verschwand, bis wir nur noch wenige waren, die den doppelten Preis fürs Bier bezahlten, damit der Wirt noch leben und die Miete für die Kneipenräume bezahlen konnte. Wir renovierten sie, nachdem ein anonymer Anrufer eine Anzeige bei der Hygiene gemacht hatte, und wir rauchten vor der Tür so leise wie Katzen auf der Hofmauer herumschlichen. Aber es nützte nichts.

Der Wirt verlor die Nerven, als er sich eines Nachts mit dem Wohnungsbesitzer in der Beletage prügelte, der wegen ruhestörenden Lärms jeden Abend die Polizei holte. Der Wirt verlor den Prozess und seine Lizenz, und wir waren unser Wohnzimmer los. Von unverkäuflicher Kunst, Humbug oder Bierverkauf ließ sich hier schon lange nicht mehr leben. Am letzten Abend brachte ich eine Postkarte mit, die seit Jahren in meinem Flur hing, Macchiavelli für Kids:  „Wenn Du eine Gegend eroberst, töte jeden, der gegen Dich ist, basta. Danach sei ganz nett zu allen, die übrig geblieben sind.“ Vielleicht war genau das das Unerbittliche: Niemand von uns sollte übrig bleiben. Einer von uns hatte mal die Frage in die Runde geworfen, ob der Zustand unseres Viertels nicht mit den Auswirkungen einer Neutronenbombe vergleichbar wäre, mit der sie uns als Kind soviel Angst gemacht hatten. Davor, dass der Feind sie über unserem Viertel abwerfen könnte und jegliches Leben auslöschte, die Häuser aber unversehrt stehen blieben. Dann kämen die Eroberer und machten es sich in unseren Wohnungen gemütlich. Na gut, sagten wir, aber es ist ja niemand gestorben. Aber wo, fragte er, sind denn alle hin? Wir klebten die Macchiavelli-Karte mit Sekundenkleber an die Schaufensterscheibe. Hat aber auch nichts genützt. Das Schaufenster wurde ausgewechselt. Der Wirt ist ins Brandenburgische gezogen, und in den Räumen, wo wir uns früher nachts aneinanderkuschelten, ist seit kurzem ein Kindercafé mit Hüpfburg, in dem Väter stundenlang ihren Kindern beim Spielen zusehen, aus Angst, sie könnten sich stoßen oder von anderen, bösen Männern entführt werden.

Dieser Zustand der absoluten mitternächtlichen Stille im Zentrum einer Metropole, ein Oxymoron, wenn man mich fragt, ließ sich leicht mit einem Ausnahmezustand verwechseln, aber tatsächlich hatte es den letzten hier in der Woche nach dem Aufstand am 17. Juni 1953 gegeben. Nicht mal nach dem 7. Oktober 1989, als es auf den Straßen um die Gethsemanekirche knapp einen Kilometer entfernt zu Rangeleien zwischen Sicherheitskräften und uns zornigen Jugendlichen gekommen war, in deren Folge viele von uns verhaftet wurden, bis die Straßen leer waren, war es nachts so still gewesen. Gut, vielleicht in der Nähe der Mauer, aber auch da war immer wenigstens ein Volkspolizist aus dem Dunkel eines verrotteten Hauseinganges gekommen und hatte auf sächsisch um den Personalausweis gebeten, ja die Herausgabe geradezu befohlen. Es war damals Mode, ihren seltsamen Singsang nachzumachen. „Nuu, Genosse, da wersch ma nachguggen, obsch das Personaldoggumend ooch am Moann hobbe“, was die Polizisten, je nach Temperament, mit Langmut oder verstärkter Kontrollwut, manchmal auch mit Zuführung beantworteten. Dann verbrachte man die Nacht im Revier.

Vorletzten Winter, als der Schnee meterhoch auf den Bürgersteigen und in Grünanlagen lag und viele Tage die Lautstärke der Schritte dämpfte, selbst auf den Straßen war er liegengeblieben, war ein Mann mir nachts sehr dicht gefolgt, so lautlos, dass erst der Geruch seines Atems mich darauf aufmerksam machte, dass da jemand hinter mir war. Er sagte keinen Ton, folgte mir nur wie ein Schatten. Es war eine Stunde vor Mitternacht und niemand war auf der Straße, selbst die Fenster der Vorderhäuser waren allesamt dunkel. Wenn ich schneller ging, beschleunigte auch er seine Schritte. Lief ich langsam, drosselte er sein Tempo, blieb ich stehen, um meine Schnürsenkel zu binden, tat er dasselbe. Ich erwartete jeden Moment einen Schlag auf den Kopf, das Entreißen meiner Tasche oder eine Pistolenmündung im Rücken. Nach dreihundert Metern bekam ich Panik. Ich checkte die Türen der Vorderhäuser, ob eine vielleicht nur angelehnt war, aber alle Tore und Türen waren verrammelt. Da entdeckte ich ein Licht, das auf den Schnee des Gehwegs fiel. Hinter dem Fenster befand sich eine Bar, die mir noch nie aufgefallen war. Ich flutschte hinein und warf die Tür hinter mir zu. Der Schatten folgte mir nicht.

In der Bar war es voll. In meiner Erinnerung war sie verraucht, was aber nicht stimmen kann, denn das Rauchen war schon verboten, als ich sie das erste Mal betrat. Aber alle sahen so aus, als würden sie vor einem Aschenbecher sitzen und in Gedanken versunken die Asche ihrer Zigaretten abstreifen. Es waren fast ausschließlich Männer.

Was dann kam, war eigentlich Zufall. Einer sprach mich an. Er kam mir bekannt vor, aber irgendwie sehen sich die Neuen ja alle ähnlich, die gleiche Kleidung, die gleichen Brillen, die gleiche Sorte Herrenparfüm, Dreitagebart und Smartphone. Ich hatte plötzlich Lust zu erfahren, ob sie auch nackt nicht zu unterscheiden waren. Ich mag Sex mit Fremden wie ich Currywürste mag. Manchmal esse ich ein Jahr keine, aber dann steigt mir der Geruch in die Nase und ich muss zur erstbesten Currywurstbude und drei auf einmal runterschlingen, bis der Anfall wieder vorbei ist. Ich zeigte Interesse an einer gemeinsamen Nacht.

Bald stellte sich heraus, dass es einer dieser Heliummänner war. In unserer Kneipe war das ein Running Gag, Männer, die mit Babystimmen sprechen, nannten wir so. Auch Heliumfrauen gab es zur Genüge.

Wenn nachmittags auf dem Weg in den Park wieder mal zehn oder elf dieser piepsenden Leute an mir vorbeigegangen sind, werde ich unruhig  und fange an, laut vor mich hin zu sprechen, weil ich wider besseres Wissen denke, dass es ansteckend ist. Aber nein, meine Stimme ist noch so tief und rau, dass sich die Familien manchmal erschrocken umdrehen, wenn ich auf der Straße hinter ihnen auflache, unter Garantie sagt eine der Heliumstimmen dann zu seinem Kind: „Keine Angst Leon/ Leonie, das ist nur eine Frau“, und ich lache dann gleich noch mal und noch lauter, dass sie verschreckt zur Seite treten, was sie ja sonst nie machen, weil ihnen die Welt gehört. Ich lache gern. Früher war ich lieber traurig und geheimnisvoll, aber wenn man über 40 ist, wirkt man ernst schnell depressiv.

Er gefiel mir eigentlich gar nicht, zu klein, zu jung, ein Langweiler, aber es ritt mich, auf seine Avancen einzugehen, ihn noch ein bisschen zappeln zu lassen und ihn dann aufzufressen. Ich nahm ihn mit zu mir. Aber er hatte so eine Angst vor seiner Frau, dass wir über Petting nicht hinauskamen. Er konnte sich noch nicht einmal verabschieden, kam einfach nicht zum nächsten verabredeten Termin. Aber ich war trotzdem auf den Geschmack gekommen. Ich ging noch einmal zu der Bar, die eigentlich auch nur eine schlecht getarnte Abschleppkneipe war, wie früher der Franzklub ein paar hundert Meter weiter, nur dass hier eben die späten Väter saßen, mit Ringen unter und Gier in den Augen. Frauen schienen viel kürzer zu verweilen. Eigentlich holten sie die Männer nur ab. Auch mir reichten zwei Bier für die Entscheidung, und da sie sich alle ähnlich sahen, fiel mir die Wahl viel weniger schwer als vor dem Joghurtregal der Kaufhalle ein paar Schritte weiter, bei deren Richtfest ich noch mit meiner Volkstanzgruppe aufgetreten war und die nun natürlich Supermarkt hieß. Nach dem zweiten Heliummann, der mir auf den Leim gegangen war, begann ich mit einer von mir so genannten Phänomenologie dieser Spezies. Am ähnlichsten sind sie sich in ihrem Besitzerstolz. Ein Wischen über das Smartphone und schon erscheint ihre aktuelle Familie, die Frau, die sich an zwei Kleinkinder schmiegt, meist Zwillinge. Nachdem ich einen vor dem Koitus in die Flucht getrieben habe, als ich angesichts der Zwillinge „Reagenzglas?“ gefragt habe, bin ich vorsichtiger. Die Frauen scheinen alle die gleiche Konfektionsgröße zu haben, alle die gleiche Frisur und alle tragen im Winter diese gesteppten Mäntel in schwarz oder dunkelblau mit den übergroßen Logos teurer Outdoormarken. Meistens komme ich aber gar nicht dazu, mir die Ehefrauen genauer anzusehen, denn die Männer müssen schnell noch eine Statusmeldung abgeben, eine SMS beantworten oder die Mails checken. Manchmal entschuldigen sie sich auch, um zu telefonieren und dann wichtig mit dem Smartphone am Ohr auf der Straße hin und herzulaufen und mir Zeichen zu machen, dass ich nicht weggehen soll.

Ich mag keine blumigen Vorspiele. Am besten gefällt mir Sex nachts im Park, der Kitzel ist größer, die Angst vorm Entdecktwerden dehnt die Dauer des Aktes nicht ins Unendliche. Allerdings habe ich bemerkt, dass diese Männer für solcherart Experimente nicht die richtigen sind. Die handfesten Jungs der Vergangenheit hatten nichts gegen Natur, den zartbesaiteteren Neubewohnern piekts dann doch zu doll und sie haben Angst, ein Zweig zwischen den Beinen könnte sie verraten. Sie brauchen ein Dach über dem Kopf, wenn sie die Hosen herunterlassen. Meistens gehen wir zu mir. Ich vermeide, das Licht anzumachen. Es geht um Sex, nicht darum, wie ich lebe. Ich habe eine Mittelwohnung in einem Vorderhaus, die ich erfolgreich gegen jede Sanierung verteidigen konnte. Dusche in der Küche und die Toilette eine halbe Treppe tiefer. Das hat den einen oder anderen schon abgeschreckt, zumal das Wasser in der Dusche erst angeheizt werden muss. Was ich arbeite, geht sie nichts an. Dem ersten habe ich es noch erzählt, das ging nicht gut aus. Jetzt sage ich, was mit Computern, und es ist noch niemandem aufgefallen, dass es überhaupt keinen Computer gibt in der Wohnung, nur Bücher bis unter die Decke.

Überhaupt wollen sie selten etwas über mich wissen. Sie sind da nicht neugierig. Ich bin auch nicht besonders scharf darauf, ich würde ihnen sowieso nicht die Wahrheit sagen. Ich wohne seit meiner Geburt in dem Viertel. Wenn ich das erzähle, ernte ich mitleidige Blicke, als ob ich noch nie irgendwo hingereist wäre. Ich finde Reisen überbewertet. Hier gab es im letzten Vierteljahrhundert so viele Veränderungen, das hätte ich mit keiner Weltreise und mit keinem Umzug hinbekommen, auch wenn es seit zehn Jahren, seit sie sich angeschickt haben, mit ihren geländegängigen Autos und gesunden Mohrrüben die ostdeutsche Wüste urbar zu machen, immer langweiliger wird. Das würden sie natürlich bestreiten. Wenn ich sie wäre, würde ich das auch tun. Meine Nachbarin Frau Korte, eine 75-jährige, die seit ihrer Geburt in derselben Wohnung lebt, hat neulich auf dem Treppenabsatz zu mir gesagt: „Ich bin mir sicher, dass ich noch erleben werde, dass die alle wieder weg sind.“ In ihrem Optimismus erinnert sie mich an meine alte Tante Trude. Sie und ihr Mann waren Anfang der Neunziger die einzigen in einem völlig leeren Haus, das kurz darauf in einer Nacht- und Nebelaktion von einer Gruppe junger Leuter besetzt wurde, die rund um die Uhr Remmidemmi machten. Trude, die eigentlich nichts aus der Ruhe brachte, sie hatte die Bombennächte und die Eroberung durch die Rote Armee in diesem Haus erlebt, fragte, als sie nachts um drei wegen der wummernden Bässe nicht schlafen konnte, ob es nicht besser sei umzuziehen, aber ihr Mann war der Meinung: „Warts mal ab, Trude, die werden noch so spießig, dass sie sich über uns beschweren werden.“ Und so kam es dann auch.

Ich stelle den Männern viele Fragen. Meist nach dem Sex, zum Runterkommen, wenn wir noch einen Schluck trinken. Ich bin so gut darin, dass sie nicht misstrauisch werden. Wir arbeiten ihr Leben ab, das von Falk oder Florian, David oder Daniel, Lukas oder Johannes, von Station zu Station, die Karriereleiter hoch, natürlich nie runter. Vom Praktikanten zum Senior Consultator. So eine wie ich, denken sie, der kann man was erzählen, die ist fremd, die kennt sich nicht aus. Ich sehe natürlich, dass sie sich belügen, aber wer macht das nicht. Ich bin besonders gut darin. Ich weiß längst, dass meine Zeit hier abgelaufen ist. Dass das Argument, dass ich hier geboren bin, nicht mehr zählt. Dass das jetzt eine Vorstadt ist und abends gefälligst Ruhe zu herrschen hat. Und dass ich hier nicht mehr herpasse, dass ich zusehen muss, dass ich hier rechtzeitig erhobenen Hauptes wegkomme. Aber ich zögere noch, denn es ist mein Zuhause. Bis vor kurzem hatte ich eine komfortable Position. Ich saß auf meinem Balkon und vor mir änderte sich die Welt im Zeitraffer, eben noch grau und bevölkert von, meine neuen Nachbarn würden sagen: Unterschicht, und Untergrund und nun alles pastell, wie die Auslagen im Eisladen, und voller glücklicher Familien.

Ich verleugne nie, dass ich schon hier war, als sie noch in Reihenhaussiedlungen westdeutscher Vororte wohnten und von einer Zukunft im Reihenendhaus träumten.  Obwohl ich mir eine westdeutsche Kindheit spielend erfinden könnte, wegen des Dialektes vielleicht eher in Niedersachsen als in Baden-Württemberg. Ich habe alle ihre Popallüren studiert, ihre Serien gesehen, ihre Musik gehört, ich kenne die Schlagersänger ihrer Kindheit, die ihre Mütter mochten, weil meine Mutter sie auch gerne hörte. Ich weiß, wie die Mittelklasseautos heißen, auf deren Rücksitzen sie als Kinder saßen oder den ersten Sex hatten. Ich kenne die Namen der Autobahnkreuze, die Wasserstände und Tauchtiefen ihrer Flüsse zu jeder Jahreszeit und die Titel ihrer Kinderbücher. Ich kann ihre drei Fragezeichen zu Ausrufezeichen biegen und kenne alle Sammelbildchen. Ich weiß, wie ihre Schulmappen hießen und kann sämtliche Sorten von Erfrischungsgetränken und Eis der Jahre 65 bis 90 fehlerlos aufsagen. Aber ich habe keine Lust, mich zu verstellen.

Es ist auch nicht nötig, ich muss nicht gut wegkommen. Denn mein Herz spricht nicht. Es sagt keinen einzigen Ton. Früher, als ich noch ein Mädchen war, konnte ich mir nicht vorstellen, nicht ein bisschen verliebt zu sein, wenn ich mit einem Jungen ins Bett ging. Damals war die Welt noch so: Die Jungs brachen das Herz und die Mädchen ließen es sich brechen, nur so zum Spaß. Was hatten wir für Herzensbrecher in unserem Viertel! Das hat sich gründlich geändert, seit ich erwachsen wurde. Hier musste man damals sehr früh erwachsen werden. Heute rasieren die Frauen ihre Scham, als würde man ihnen dann kein Leid antun, weil sie unten wie kleine Mädchen aussehen.

Eigentlich bin ich die ideale Liebhaberin. Ich will kein Eheversprechen, kein Kind und keine Geschenke. Aber irgendwie passt den Heliummännern das auch wieder nicht. So eine Beziehung ist ganz schnell vorbei, wenn ich sage, ich liebe dich nicht. Ich will  nur ficken und du willst es auch, also lassen wir es dabei. Wir können das in die Zukunft verlängern, ich werde schweigen wie ein Grab, ich lauf dir nicht hinterher, verfolge deine Familie nicht, setze mich nicht auf den Spielplatz und beobachte deine Kinder. Aber die Heliummänner möchten über die Beziehung entscheiden. Sie möchten sagen, es tut mir leid, wir hatten eine gute Zeit, jetzt ist es vorbei. Sie wollen Schwüre und Sichverzehren, sie mögen Tränen, Liebes-SMS und Entfreundungen auf Facebook. Sie wollen hören, dass ich ihnen sage, dass ich will, dass es für ewig ist. Damit sie dann sagen können: „Es war nur Sex, Baby, oder hattest du ernsthaft gedacht, dass ich wegen dir meine Familie verlasse.“ Oder die Mitleidigeren mich stumm trösten und dann ihre verstreuten Anziehsachen zusammensammeln. Einer wollte mir sogar Geld geben. Der hatte da was ganz falsch verstanden. Ich habe seine Sachen aus dem Fenster geworfen. Manchmal nehme ich schon in der Bar Abstand. Einer lud mich mal zu teuren Schnäpsen ein und als er genug intus hatte, erzählte er mir von querulantischen Altmietern, die zu beseitigen seine Aufgabe sei und von Milieuausrottung. Und als er den Satz sagte:  „Die Einfachen ziehen weg, die Guten kommen“, überlegte ich kurz, ihn mitzunehmen und ihn nach dem Sex in meiner Außentoilette einzusperren, nackt in seiner postcoitalen Schläfrigkeit. Es war Winter, ich hätte ihn erpressen können, schließlich hatte er Frau und Kinder. Aber ich wollte nicht, dass er in meine Wohnung kam. Er hätte sie wahrscheinlich gleich gekauft und mich vor die Tür gesetzt. Das ist es nicht wert.

Die Männer lieben es, mir ihre großen Wohnungen mit den riesigen teuren Küchen zu zeigen, in denen selten gekocht wird. Das rieche ich. Sie streichen mit der Fingerkuppe über die Messer, um verrucht auszusehen, aber am Ende suchen wir im Badezimmer den Erste-Hilfe-Kasten und ich werde gezwungen, den Beruf auszuüben, den ich als erstes gelernt habe, bevor ich mein Studium anfing. Das sind sie also, ihre Traumwohnungen mit Stuck und Parkett, mit Kamin und Gästebad, mit Küchen vom Designer und Kinderwagen, die soviel wie mein gebrauchtes Auto gekostet haben. An den Wänden großformatige Bilder in Öl oder Schwarzweißfotos, abstrakt oder mit mit irgendwelchen Pflanzen oder Gegenständen darauf, manchmal auch Siebdrucke mit der Familie, als hätte Warhol sie zum Porträt gebeten. Sie zeigen überhaupt gerne, was sie haben, meist ist es verschwindend wenig, eigentlich nur Gegenstände, die teuer waren. Und dann werfen sie sich auf mich und ich bin froh, wenn wir es auf dem Teppich machen und nicht in ihren Schlafzimmern.

Ich will nichts über ihre Frauen wissen, die wahrscheinlich gerade fremdgehen, während ich auf den Schößen ihrer Männer sitze. Ich weiß, dass ich wenigstens jenseits des Sexes solidarisch sein sollte, aber ich mag ihren Ego-Feminismus nicht. Schon der Ton, mit dem sie ihre Putzfrauen abkanzeln, die montags mit ihren Schrubbern Sturm an den Vorderhaus- und Maisonette-Wohnungen klingeln, gefällt mir nicht. Ich bin immer in der Rolle der Putzfrau und mir fällt dann nicht mehr Hélène Cixous, sondern nur noch Clara Zetkin ein, und dass die Frauenfrage durchaus auch eine Klassenfrage ist, was ich vor zwanzig Jahren noch erbost abgelehnt hätte. Einer meiner Sexpartner hat mal angegeben, mit welchem Prominenten er sich die Putzfrau teilt. Die angeblichen Prominenten sind mir alle unbekannt. Die meisten arbeiten bei Film oder Fernsehen, als Moderator, Kritiker oder Diskurspopmusiker, keine Ahnung. Ich kenn mich da nicht aus, ich habe aufgehört, mich dafür zu interessieren.

In den lauen Sommernächten, wo es erst kurz vor Mitternacht dunkel wird und alle im Urlaub sind, gehe ich gerne durch die Straßen und betrachte die Zeitschichten an den Dingen, die sie vergessen haben zu beseitigen, Wasserpumpen, Papierkörbe, Gullydeckel oder Lampen, ab und an auch noch eine unrenovierte Fassade. Ich gehe durch die Nacht und an jeder Straßenecke ist eine andere Erinnerung, die illegalen Klubs, die Haschischkneipen, die Filme auf dem Hinterhof, die Abenteuerspielplätze der Kinder, ihre Kindergärten, Schulen, die seltsamen Leute mit den Ticks. Manchmal komme ich mir schon vor wie Frau Gladow, meine Nachbarin aus dem Nebenhaus, die sich vergiftet hat, als sie aus ihrer Wohnung ausziehen sollte. Die sah immer noch die Hasen, die nach dem Krieg vor Weihnachten aus allen Fenstern hingen und dort ausbluteten und schön gekühlt waren, bevor man ihnen das Fell abzog. Ich weiß, dass alle Sicherheit hier immer trügerisch sein wird, auch für die Neuen, da können sie noch soviele unsichtbare und sichtbare Zäune um sich herumbauen. Im Erdreich lauern immer noch genügend Blindgänger, die niemand je versucht hat zu finden.

Manchmal gehe ich auf den Friedhof und rede mit meinen Freunden, die gestorben sind. Ich weiß nicht, wann ihre Liegezeit abläuft und ob nicht auch ihre Gräber bedroht sind, die Kirche braucht ja auch immer Geld und man kann diese Friedhöfe gut bebauen oder wenigstens zu Spielplätzen umfunktionieren. Und dann kommt so ein Kind mit einer Knochenhand, um sie der Mama oder dem Papa zu zeigen oder vielleicht sogar der alten Großmutter, die aus München angereist ist und sich sowieso schon die ganze Zeit über den Schmutz dieser Stadt Gedanken gemacht hat. Und vielleicht ist es ja die Hand des genialsten Underground-Gitarristen der frühen Achtziger, dem Jimi Hendrix des Prenzlauer Berg, der dafür sogar eineinhalb Jahre im Gefängnis gesessen hat. Aber ich träume. Es sind Urnengräber.

Einmal schlenderte ich mit einem der Männer durch eine der ausgestorbenen Straßen hinter dem Kollwitzplatz, etwas verlegen wegen der Stille, und schon als er die Haustür öffnete, fing mir das Herz an zu klopfen und als er dann auf den ersten Hof ging, hatte ich plötzlich den Geruch in der Nase, den Geruch des Jahres 1984, Orwell und der Kohlenhof nebenan, und immer brannte eine Mülltonne und oft drückte der Wind in die Schornsteine. Auf dem letzten Hof hatte ich den Vater meiner Tochter kennengelernt, als mal wieder der Strom ausgefallen und die Liebchen von Würger-Horst schreiend die dunkle Treppe runtergerannt waren, wo sich Erika in der Leine ihres Hundes verfangen hatte und eine ganze Treppe runtergestürzt war, weswegen ihr Schreien nun endlich einen Grund hatte, denn sie konnte danach nicht mehr auftreten und ihr Hund leckte ihren Knöchel, während ich ins Vorderhaus zu Frau Schneider lief, die das einzige Telefon im Haus hatte, um sie zu bitten die Schnelle Medizinische Hilfe zu holen. Aber Frau Schneider weigerte sich, für die Schnapstante sei ihr das Telefon zu schade, solle sie doch sterben, mache eh nur Krach, die Schlampe. Ich verfluchte Frau Schneider (und wirklich, sie stürzte schon ein halbes Jahr später und brach sich den Oberschenkelhals, und weil sie alleine lebte, konnte sie sich nicht bis zum Telefon schleppen). Erika wurde von mir versorgt. Ihre Tochter musste die Kerze halten und ich bastelte aus einem langen Holzscheit und einer Elastikbinde eine Schiene. Gerade als ich fertig war, kam ein großer dunkelhaariger Kerl die Treppe herunter, der mir noch nie aufgefallen war und fragte, was los sei, und zufällig wurde er der Vater meiner ersten Tochter. Er lebt schon lange nicht mehr hier, auch meine Kinder haben sich aufregendere Viertel zum Leben gesucht.

Der Mann, mit dem ich jetzt meinen Hausflur betrat, hatte einen Schlüssel zum Fahrstuhl. Solange wir auf ihn warteten, versuchte er mich zu küssen. Ich war in einem anderen Film. Ich dachte daran, wie ich damals alles in den vierten Stock schleppen musste und vor der Entscheidung stand, was zuerst nach oben kam, Kind, Einkauf oder Kohlen. Der Mann drückte die 4 und als wir oben ankamen, schloss er meine Wohnung auf. Ich hatte seit fünf Minuten nichts anderes erwartet. Nur dass er noch das Dachgeschoss dazu gekauft hatte. Ich erzählte ihm nichts von den Sommernächten auf den Dächern und nichts von den Nägeln, mit denen die Dachpappe auf dem Notdach befestigt war, die beim Sex immer ins Fleisch piekten. Dort, wo jetzt der Stacheldraht die Häuser abgrenzt, damit keine Einbrecher übers Dach kommen.

Am Ende rauchen wir immer noch eine zusammen zum Abschied, nachdem sie sich ein paar Sätze lang geziert haben. Mehr als zweimal habe ich eigentlich mit keinem geschlafen.

Seit gestern ist die Bar zu. Ich weiß nicht, wo die Männer jetzt hin sind. Mein Bedarf ist im Moment gedeckt. Obwohl ich immer noch der Meinung bin, man sollte sie nicht alleine lassen mit sich. Sonst fangen sie noch an, sich gegenseitig umzubringen.

Der Fuchs streicht noch eine Weile um die Autos und zerknackt ein paar Zweige. Seine Familie, habe ich in einem der Zeitungen unseres Viertels gelesen, soll ihren Bau im Archiv des Bezirksamtes haben. Die Tierschützer haben abgeraten, sie von dort zu verscheuchen. Manchmal möchte ich ein Tier sein, ein Fuchs oder eine Hufeisennase, aber naja.

Die ersten Wölfe sollen schon in den Außenbezirken gesichtet worden sein. Eines Nachts werden sie in mein Viertel einfallen und niemanden finden außer mir. 

 


 

*Aus: Zuerst erschienen in: Berlin bei Nacht. Neue Geschichten, hrsg. von Susanne Gretter, Suhrkamp 2013

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